Die Zerstörung der industriellen Beziehungen war wesentlicher Bestandteil des Anpassungsprogrammes im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus in Griechenland seit 2010. Die Bindungswirkung des nationalen Allgemeinen Tarifvertrages (EGSSE), die per Gesetz statt durch Kollektivverhandlungen von Gewerkschaften festgesetzt wurde, schwächte die griechische Lohnlandschaft erheblich. Die ILO ist nun gefordert, Griechenland beim Wiederaufbau des Systems der Tarifverhandlungen zu unterstützen.
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Die Zerstörung der industriellen Beziehungen war ein wesentlicher Bestandteil des Anpassungsprogrammes im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus in Griechenland seit 2010. Die Reformen waren hauptsächlich ideologischer Natur und entbehrten jeglicher Rechtfertigung für die wirtschaftliche Erholung Griechenlands: Das Land ist nach wie vor mit einer verheerenden Wirtschaftssituation konfrontiert. Gleichzeitig widersprachen sie der ILO-Konvention 98 und den sozialen Grundprinzipien, auf denen die Europäische Union aufbaut.
Die griechische Regierung verordnete unter Druck der Gläubiger einseitig eine Neustrukturierung der industriellen Beziehungen, insbesondere im Hinblick auf die Bindungswirkung des nationalen Allgemeinen Tarifvertrages (EGSSE), der durch Gesetz festgesetzt wurde, statt durch Kollektivverhandlungen von nationalen Gewerkschaften.
Des Weiteren wurden sektorale Tarifverhandlungen geschwächt und das Begünstigungsprinzip abgeschafft. Die Verhandlungsposition der Gewerkschaften wurde unterlaufen, indem „Personenvereinigungen“ als Vertreter der Beschäftigten zu den Tarifverhandlungen zugelassen wurden. Dies hat gravierende Auswirkungen auf die griechische Lohnlandschaft:
Die Verletzung der institutionalisierten Tarifverhandlungen hatte somit einen schädlichen Effekt auf die Löhne und verstärkte Ungleichheit und Armut. Die nominelle Lohnreduktion (rund 7,4%) fiel auf Betriebsebene noch härter aus, wobei die Vereinbarungen meist von Personenvereinigungen und nicht von Gewerkschaften getroffen wurden.
2017 beklagten 60% der Haushalte einen Einkommensrückgang. Für 2018 erwarten sie eine weitere Verschlechterung ihrer finanziellen Situation. Über 700.000 Menschen, die in der Vorkrisenzeit zur Mittelklasse gezählt wurden, sind nun von Armut bedroht.
Aus diesen Gründen ist es unerlässlich, so schnell wie möglich den institutionellen Rahmen für Arbeitsbeziehungen, freie Tarifverhandlungen und -vereinbarungen auf allen Ebenen wieder herzustellen. Ebenso ist das Verbot äußerst kritisch zu sehen, die „Personenvereinigungen“, deren Rolle bei Gehaltskürzungen und Arbeitsbedingungen bisher nur negativ ausfiel, durch Gewerkschaften zu ersetzen.
Beschäftigte des Privatsektors, insbesondere in kleinen Unternehmen, müssen durch Gewerkschaften effektiv vertreten werden. Die originäre Vertretung von Beschäftigten solcher Unternehmen sollte durch Gesetzesinitiativen unterstützt werden, die sektorale Tarifvereinbarungen stärkt und wirksame Interventionen von Gewerkschaften am Arbeitsplatz erlaubt. Denn: Die negativen Effekte der Zerstörung des Rahmens für Tarifverhandlungen und deren Dezentralisierung sind in Griechenland unbestreitbar. Sie mündeten in eine schwere Störung der industriellen Beziehungen auf verschiedenen Ebenen. Hält dieser Zustand an, so werden kollektive Rechte geschwächt, Gewerkschaften aufgelöst und die demokratische Beteiligung der Beschäftigten korrodiert.
Das erinnert an die Geschichte über Krösus aus dem antiken Griechenland, der das Orakel von Delphi befragte, was passieren würde, wenn er gegen Persien in den Krieg zöge. „Ein großes Imperium wird zerstört“, war die Antwort. In dem Glauben, Persien sei gemeint, schritt Krösus zum Angriff. Aber es war sein eigenes Imperium, das unterging.
Der Kriegszug gegen die Institutionen der griechischen Beschäftigten durch die Europäische Union, die Gläubigerstaaten und andere internationale Organisationen macht klar, dass sie die Demokratie am Arbeitsplatz und das Wohlergehen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Interesse der europäischen Finanzmarktinstitutionen opfern. Europa riskiert damit die Zerstörung seiner eigenen Wirtschaftsinstitutionen.
Deshalb ist die ILO gefordert, Griechenland beim Wiederaufbau des Systems der Tarifverhandlungen zu unterstützen, bevor der Kreuzzug gegen Beschäftigte und ihre Institutionen die Vision vom europäischen Sozialmodell und vom sozialen Dialog zerstört, die zur Gründung der ILO vor beinahe einem Jahrhundert führte.
Carolin Vollmann (DGB)