Deutscher Gewerkschaftsbund

14.03.2018

Eine wetterfeste EU - Ein Europäischer Arbeitsminister

„Wir wollen die EU wetterfest machen für die Zukunft“, meinte EU-Haushaltskommissar Günther Öttinger. Die Europäische Währungsunion soll auf ein solides Fundament gestellt werden, nachdem sie seit der Finanzkrise 2007 schwer ins Trudeln geraten ist. Die einheitliche Währung bewies sich seitdem nicht mehr als Schutz vor wirtschaftlichen Turbulenzen, sondern brachte einige Mitgliedstaaten an den Rand des wirtschaftlichen Kollapses und unter den Rettungsschirm. Die mit ihrer Rettung verknüpften Austeritätsmaßnahmen, legitimiert durch die in der Euro-Gruppe vertretenen Finanzminister, stehen für eine EU des Abbaus von sozialen, arbeitsrechtlichen und gewerkschaftlichen Grundrechten. Die EU-Institutionen haben sich beim Gipfel in Göteborg zu einer neuen Sozialagenda – der Europäischen Säule Sozialer Rechte – verpflichtet. Ein/e Europäische Arbeitsminister/in könnte diese vorantreiben.

Euro

DGB/Simone M. Neumann

Sozialdumping und Deregulierung nationaler Schutzvorschriften im Sozial- und Arbeitsrecht gehören zu den Hauptgründen für die Desintegration der EU. Dem vollendeten Binnenmarkt auf der einen Seite, der Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehrsfreiheit als unternehmerische Grundrechte garantiert, steht ein Stückwerk an Arbeits- und Sozialrecht sowie eine provisorische Währungskonstruktion ohne vergemeinschaftete Fiskalpolitik gegenüber.

Auf dieser Basis ist Integration immer weniger möglich – im Gegenteil, die Blockbildung Süd-Nord, was Währungsfragen, sowie West-Ost was Lohn- und Sozialfragen betrifft, vergrößert die Spaltung zusehends. Sie kumulierte vorerst im Austrittsantrag Großbritanniens.

Europäischer Wirtschafts- und Finanzminister

Was die Wirtschafts- und Währungsunion betrifft, so liegen im Wesentlichen drei Reformvorschläge auf dem Tisch, nämlich von Frankreichs Präsidenten Macron, von Deutschlands ehemaligen Finanzminister Schäuble, sowie von Kommissionspräsident Juncker. Schäubles EU-Sparmeister für die Union stellt Macron einen Euro-Finanzminister mit Europarlament und fiskalpolitischer Kompetenz gegenüber. Kommissionpräsident Juncker sieht den neuen EU- Finanzminister innerhalb des bisherigen Gefüges der EU-Verfassung, also einen Wirtschafts- und Finanzkommissar, Vizepräsident der EU-Kommission und gleichzeitig Vorsitzender der Eurogruppe. Er würde dementsprechend eine Mittelstellung zwischen derzeitiger autokratischer Regierung im Rahmen des Stabilitätsmechanismus und dem marcronschen Finanzminister mit Verantwortung gegenüber dem Euro-Parlament einnehmen.

Was bedeutet dies aber für die Europäische Union? Es läuft auf eine Fortsetzung der Binnenmarktagenda hinaus, während die Sozialagenda weiter Stückwerk bleibt. Ein EU-Wirtschafts- und Finanzminister bzw. -kommissar würde die Radikalisierung des Binnenmarkts weiter vorantreiben: Abbau nationaler Schutzgesetze, Privatisierung von Daseinsvorsorgeaufgaben und Stabilisierung des Euro durch Schuldenbremse. Selbst wenn ein Finanzminister nach Macrons Vorstellungen Realität würde, stünde die Wirtschafts- und Finanzagenda im Mittelpunkt, während die Sozial- und Arbeitsrechtsagenda weiterhin als Beiwerk behandelt würde.

Ein Gesicht für die Rechte der Beschäftigten in der EU

Einem solchen EU-Wirtschafts- und Finanzminister hat die sozialpolitische Agenda, wie sie in Art 3 Abs. 3 EUV festgeschrieben ist, nichts Ebenbürtiges entgegenzusetzen. Eine wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, bliebe weiterhin eine Vision ohne Umsetzung.

Dies ist nicht mit der Selbstbindung der EU-Institutionen durch die Proklamation von Göteborg vom 17.11.2017 zur Errichtung einer Europäischen Säule sozialer Rechte vereinbar. Das Ziel der Konvergenz der Lebensbedingungen (Art 151 Vertag übe die Arbeitsweise der Union, AEUV) wird in der Europäischen Union seit Jahren verfehlt. Während sich die relative Einkommensungleichheit bis 2009 verringerte und seitdem stagniert, steigt die absolute Einkommensungleichheit dramatisch weiter. Im Hinblick darauf ist es angebracht, die sozialpolitischen Unionskompetenzen, die ein Stückwerk von hartem Recht hervorgebracht haben, mit systematischen Leben zu befüllen.

Des Weiteren arbeiten in Europa rund 16 Millionen europäische Bürgerinnen und Bürger in einem anderen Mitgliedsstaat, 1,7 Millionen Bürgerinnen und Bürger sind zwischenstaatliche Pendlerinnen und Pendler und viele Millionen Beschäftigte arbeiten für internationale Unternehmen in einem pan-europäischen Markt. Gleichzeitig aber stehen 27 unterschiedliche Arbeitsrechts- und Sozialversicherungssysteme nebeneinander. 

Die Entwicklung der Europäischen Union zeigt somit, dass ein europäischer Kommissar/eine europäische Kommissarin für Beschäftigung allein nicht das ausreichende politische Gewicht entwickeln kann, um gegenüber einer Eurogruppe und noch weniger gegenüber einem Wirtschafts- und Finanzkommissar entsprechende Gegenpositionen zu entwickeln.

Kommissionspräsident Juncker hat in seiner Rede zur Lage der Union 2017 eine Europäische Arbeitsbehörde vorgeschlagen. Dies ist ein Ansatz der aufgegriffen und weiter ausgebaut werden sollte. Richtig ausgestaltet, kann eine solche Behörde ähnlich wie Europol koordinierend bei grenzüberschreitenden Fällen von Arbeits- und Sozialrechtsverletzung tätig werden und die jeweiligen nationalen Behörden bei der Rechtsverfolgung unterstützen.

Eine solche Behörde allein reicht aber nicht aus. Es bedarf eines/r EU- Arbeitsminister/in, der neue Impulse für die Fortentwicklung des europäische Sozial- und Arbeitsrechts setzt, die sozialpolitische Agenda im Sinne von Göteborg vorantreibt und die vorhandenen Kompetenzen im AEVU ausschöpft.

Auf ersten Blick scheint der AEUV für Arbeits- und Sozialrecht nur eingeschränkt Kompetenzen auf europäische Ebene zu bieten. Bei näherer Betrachtung ist ein Tätigwerden der EU aber genau in den Bereichen vorgesehen, wo Arbeits- und Sozialrecht durch rein nationale Schutzbestimmungen nicht fortentwickelt werden kann, weil es eben an den nationalen Grenzen endet. Es scheitert also gerade bei der Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping. Die Union ist sogar verpflichtet, dort tätig zu werden, wo die in Art 151 AEUV festgelegten Ziele sonst nicht erreicht werden.

Wie können die Kompetenzen eines/r Europäischen Arbeitsministers/in aussehen

Der Union stehen mit den Art 45 ff und Art 153 AEUV ein umfangreiches Handwerkszeug zur Verfügung. Die Grenzen für ihr Tätigwerden sind klar gesteckt: Die Gemeinschaftsmethode umfasst nicht das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht.

Ein/e Europäischer Arbeitsminister/in stünde für die Förderung der Beschäftigung, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, angemessenen sozialen Schutz und ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau (Art 151 AEUV). Im Hinblick auf die Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 50% in den Krisenländern müsste er der Jugendgarantie[1] Priorität geben.

Die unterstützende, koordinierende und ergänzende Kompetenz müsste überall dort ansetzen, wo nationale Einzelregelungen zu kurz greifen. Dabei hätte er/sie nach drei Grundsätzen zu handeln: Beachtung des Regressionsverbotes (also des Verbotes, hinter den bestehenden Acquis zurückzufallen) sowie des Gebotes der Mindestharmonisierung (Mitgliedstaaten dürfen über den harmonisierten Mindestschutz hinausgehen) und Aufwärtskonvergenz. Die Zielerreichung hätte er/sie vor dem Europäischen Parlament zu verantworten.

Um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu verbessern und die Sozialagenda weiterzuentwickeln, würde dem/der EU-Arbeitsminister/in eine Arbeitsbehörde unterstellt. Sie wäre unter anderem dazu berufen, grenzüberschreitende Arbeitsverhältnisse zu schützen und Lohn- und Sozialdumping zu bekämpfen, um dem Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ Durchbruch zu verschaffen. Die Organisation der Behördenzusammenarbeit zwischen europäischer Arbeitsbehörde und nationalen Exekutivbehörden könnte sich an der Organisation von Europol orientieren.

Ausgleich zwischen Wirtschafts- und Sozialagenda

Die EU-Bürgerinnen und Bürger fühlen sich von den Binnenmarktfreiheiten bedroht, weil nationale Regulierung im Sozial- und Arbeitsrecht vom Europäischen Gerichtshof als Beschränkung der Grundfreiheiten überprüft werden und einem Dreistufentest standhalten müssen. Nationale Schutzbestimmungen zu Gunsten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen angemessen, verhältnismäßig und zweckmäßig sein. Damit werden aber sozial- und arbeitsrechtliche Schutzvorschriften einschränkend interpretiert und sind von Aufhebung bedroht. Selten werden sie an den Bestimmungen der EU-Grundrechtecharta gemessen. Dies führt dazu, dass der für diesen Bereich wesentliche Titel IV (Solidarität) der EU-Grundrechtecharta oft eine leere Hülle bleibt. Der/die EU-Arbeitsminister/in müsste für ihre konkrete Durchsetzung sorgen. Er/sie könnte den Vorrang der sozialen Grundrechte nach Titel IV der EU-Grundrechtecharta gegenüber den Binnenmarktfreiheiten einfordern und sich für ein/e soziales Fortschrittsprotokoll/Fortschrittsklausel einsetzen.

Ein erster Schritt dazu wäre eine institutionalisierte Verfahrensbeteiligung bei den Europäischen Gerichten dort, wo es um Abwägungsfragen zwischen Binnenmarktfreiheiten und nationalen arbeits- und sozialrechtlichen Schutzstandards geht.

Wenn Europa und seinen Institutionen den Bereich „Arbeit“ im Sinne von Brain-Drain, Lohn- und Sozialdumping sowie Abwanderung von Arbeitsplätzen nicht aufgreifen und konkreten, sozialverträglichen Lösungen zuführen, so werden es diejenigen tun, die damit keine europäischen Lösungen suchen. Im Sinne des mehr als 60-jährigen Friedensprojektes müssen daher progressive europäische Wege beschritten werden.

 [1] Zusage der EU-Mitgliedstaaten, dass junge Menschen bis 25 Jahre innerhalb von 4 Monaten ein Beschäftigungsangebot, einen Ausbildungs- oder Praktikumsplatz oder eine Fortbildung bekommen, nachdem sie sich arbeitslos gemeldet haben.

Von Andreas Botsch, Susanne Wixforth (beide DGB)

 


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