Im Bundestagswahlkampf 2017 war Europapolitik kaum ein Thema. Im Sondierungspapier von CDU, CSU und SPD steht nun ein Kurswechsel für Europa an erster Stelle. Ein guter Ansatz der Parteien, der jetzt weiter verfolgt werden muss. Es gilt, die Währungsunion zu vervollständigen, Mitbestimmungsrechte zu stärken und Lohn- und Sozialdumping zu beenden.
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Wer den Bundestagswahlkampf 2017 der politischen Parteien aufmerksam verfolgte und die dürren Aussagen zur Europapolitik im Papier der geplatzten Jamaika-Koalition las, konnte sich Ende Januar bei der Lektüre des Sondierungspapiers von CDU, CSU und SPD nur verwundert die Augen reiben. Europa an oberster Stelle, drei Seiten lange Aussagen zu einem Thema, das im Wahlkampf so gänzlich untergegangen war? Eine nähere Betrachtung des Papiers zeigt erste Ansätze eines möglichen Kurswechsels in der Europapolitik unter den „großen“ Parteien im Bundestag. Selbst wenn sich keine direkten Antworten auf die weitreichenden Reformvorschläge des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron zu einer „Neubegründung Europas“ darin finden, stellt man fest: die Parteien einer möglichen neuen Großen Koalition haben die Zeichen der Zeit erkannt, dass ein „weiter so“ in passiver Abwartehaltung, die den blinden Krisenmodus der Jahre 2010-2015 ablöste, sich zu einer existenziellen Bedrohung für den europäischen Zusammenhalt entwickeln könnte.
Das Sondierungspapier bekennt sich zu einer engen Partnerschaft mit Frankreich, um „die Eurozone nachhaltig (zu) stärken und (zu) reformieren, sodass der Euro globalen Krisen besser standhalten kann. Wir wollen fiskalische Kontrolle, wirtschaftliche Koordinierung in der EU und der Eurozone sowie den Kampf gegen Steuerbetrug und aggressive Steuervermeidung vorantreiben.“ (S. 5) Das Bekenntnis zu gegenseitiger Solidarität und Investitionen in Europa bedeutet eine klare Abkehr von der Austeritätspolitik. Die Bereitschaft, im Rahmen des kommenden mittelfristigen Finanzrahmens „für einen künftigen Investivhaushalt für die Eurozone“ einzutreten und sich „auch zu höheren Beiträgen Deutschlands zum EU-Haushalt“ auszusprechen (S. 5), beinhaltet zumindest die Bedingung der Möglichkeit einer konstruktiven Antwort auf die Macron’schen Vorschläge. Konkreter wird es, wo von der Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) „zu einem parlamentarisch kontrollierten Europäischen Währungsfond[s]“ die Rede ist, „der im Unionsrecht verankert sein sollte“ (S. 5)
Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann begrüßt daher den Stellenwert, den die Europapolitik bei den Sondierungsgesprächen zwischen CDU, CSU und SPD um eine neue Bundesregierung eingenommen hat. In einem Brief an die Verhandlungspartner um einen Koalitionsvertrag schreibt er: „Das historisch einzigartige Friedens- und Erfolgsprojekt der europäischen Einigung wurde in den vergangenen Jahren zunehmenden Gefährdungen durch die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise, aufkommenden Populismus und Renationalisierungstendenzen ausgesetzt. Die Europäische Union, mehr aber noch die Wirtschafts- und Währungsunion, bedarf eines Kurswechsels. […] Die Politik einer neuen Bundesregierung wird dabei einen wichtigen Beitrag für die zukünftige Entwicklung der EU zu leisten haben.“
Das Ergebnis der Sondierungen bedarf allerdings weitergehender Konkretisierungen. Ziel einer neuen Bundesregierung muss es werden, den sozialen Zusammenhang in der EU wieder zu fördern und zugleich ein starkes soziales Europa zu einer Gestaltungskraft für eine faire Globalisierung zu entwickeln. Es geht darum, dem Primat der Politik wieder Vorrang vor dem Markt zu verschaffen. Soziale Grundrechte müssen Vorrang vor wirtschaftlichen Freiheiten haben, der schrankenlosen Konkurrenz zwischen den Mitgliedsstaaten um möglichst niedrigen Sozialschutz ein Ende bereitet werden.
Ziel des DGB für die Europapolitik in einem Regierungsprogramm der Bundesrepublik Deutschland ist eine Vervollständigung der Währungsunion durch:
Die grenzüberschreitenden Wertschöpfungsketten der Unternehmen erfordern eine Stärkung der Partizipations- und Mitbestimmungsrechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dazu gehört die Anerkennung und Förderung von Standards für die Mitbestimmung in Unternehmen europäischer Rechtsform und bei transnationalen Unternehmensaktivitäten, die auf europäischem Gesellschaftsrecht basieren. Möglichkeiten zur Vermeidung und Umgehung der Mitbestimmung sollen künftig unterbunden werden. Die Europäischen Institutionen sollten eine Richtlinie zur grenzüberschreitenden Sitzverlegung vorlegen, die dem Regime Shopping ein Ende setzt und in der die Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und weitere gesellschaftsrechtliche Standards wirksam geschützt werden. Dabei soll sichergestellt werden, dass die von der EU-Kommission geplanten Initiativen im Gesellschaftsrecht zu keiner Verschlechterung für nationale Mitbestimmungssysteme führen und eine Evaluation und Verbesserung der Eurobetriebsräte-Richtlinie angegangen wird. Informations- und Konsultationsrechte in den drei Richtlinien zur Massenentlassung, zum Betriebsübergang und zur Festlegung des allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer sind durchgehend auf das Niveau der geltenden EBR-Richtlinie anzuheben.
Eine verstärkte Bekämpfung von grenzüberschreitendem Lohn- und Sozialdumping durch die Schaffung einer Europäischen Arbeitsbehörde soll die nationalen Behörden bei ihren Kontrollaufgaben und Sanktionierungsbefugnissen gezielt unterstützen und ergänzen. Verbindliche europäische Standards für gute Arbeit und gute Lebensbedingungen werden benötigt, um das europäische Sozialmodell zu sichern und auszubauen. Die Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping, die Stärkung gesundheitsförderlicher Arbeits- und Lebensbedingungen und starken Arbeitnehmerrechten durch verbindliche europäische Standards sind hierfür zentral. Soziale Grundrechte, insbesondere das rechtlich zu verankernde Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit am gleichen Ort in der EU, sollen mit einem Sozialpakt gestärkt werden.
Ein solcher Sozialpakt sollte einen Rahmen für Mindestlohnregelungen sowie einen für nationale Grundsicherungssysteme in den EU-Staaten entwickeln, der verbindliche Lohnuntergrenzen abhängig vom Entwicklungsstand in den Mitgliedstaaten der EU einführt und für Mindestregelungen sozialer Sicherheit sorgt.
Die Botschaft des DGB an die möglichen zukünftigen Koalitionäre ist klar: Nur wer konsequent gegen Lohndumping und soziale Ungleichheiten in wirtschaftlich schwächeren Ländern in Europa kämpft, sichert auch den Sozialstaat und die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland. Nur eine soziale und demokratische Europäische Union lässt das Vertrauen der Menschen in sie zurückgewinnen. Die Wahlergebnisse der letzten Jahre in vielen Mitgliedstaaten haben gezeigt, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Erwartung an Europa stellen, am wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt wieder teilzuhaben und bessere Zukunftschancen für ihre Kinder zu sehen. Dazu braucht es einen neuen Aufbruch für eine soziale und wohlstandsorientierte Europapolitik.
von: Andreas Botsch (DGB)