Deutscher Gewerkschaftsbund

24.06.2006

"Wir lehnen den Einstieg in die Kopfpauschale ab"

Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer über Änderungen am Steuersystem und Nebelkerzen in der Gesundheit

Kanzlerin Merkel nennt Deutschland einen Sanierungsfall, kündigt Schritte in der Steuer- und Gesundheitspolitik an. Ihr Ziel: Eine Kopfpauschale im Gesundheitswesen. „„Wer Deutschland einen Sanierungsfall nennt, läuft Gefahr, all das, was an Hoffnung und spürbarem Aufschwung da ist, gleich wieder kaputt zu machen“, warnt der DGB-Chef.

Frage: Für die Kanzlerin ist Deutschland ein Sanierungsfall. Teilen Sie die Einschätzung?

Michael Sommer: Keine Frage, die Haushaltslage ist dramatisch. Wenn sie nur das meint, hat die Kanzlerin Recht. Sanierungsfall wird jedoch als Ausdruck benutzt, um Belegschaften gefügig zu machen, wenn man harte Einschnitte plant. Sollen hier weitere Grausamkeiten psychologisch vorbereitet werden? Ich hoffe, dass sie das nicht meint.  Wer Deutschland einen Sanierungsfall nennt, läuft Gefahr, all das, was an Hoffnung und spürbarem Aufschwung da ist, gleich wieder kaputt zu machen. Auch die Bundeskanzlerin sollte mithelfen, dass die Psychologie positiv wirkt.

Die Kanzlerin hat mutige Schritte für eine Unternehmensteuerreform angekündigt. Mehrwertsteuererhöhung einerseits, Steuerentlastung für Firmen andererseits – ist das eine gerechte Politik?

Angepeilt wird ein Steuergeschenk an die Unternehmen von acht Milliarden Euro jährlich. Damit hält sich Schwarz-Rot nicht an die ursprünglich versprochene Aufkommensneutralität. Eine Halbierung des Körperschaftsteuersatzes ist aus unserer Sicht ein nicht zu rechtfertigendes Steuergeschenk an Unternehmer.  Solche Pläne können dazu führen, dass Koalition und Gewerkschaften wie zwei Züge aufeinander rasen. Ich fordere die Regierung auf, ihre Pläne noch einmal gründlich zu überdenken, zumal schon nach der letzten Steuersenkung haben die Unternehmen nicht mehr sondern weniger investiert – das bringt also nichts.

Welche Steueränderungen befürworten Sie?

Die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen muss abgeschafft werden. Sie ist ein grober Fehler, kostet den Staat Milliarden und hat die Finanzjongleure, die Heuschrecken, ins Land geholt. Bei der geplanten Zulassung börsennotierter Immobilienfonds, so genannter REITS, droht jetzt die nächste fatale Entscheidung.  Die Zulassung solcher Immobilienspekulationen kann zur Ausplünderung von Wohnungsgesellschaften und damit zu erheblicher Unsicherheit für Millionen Mieter führen. Das könnte geeignet sein, den sozialen Frieden zu gefährden. Hier droht eine neue Heuschreckenplage, die diesmal direkt vor die Wohnungstür kommt.

Während der WM [die Fußballweltmeisterschaft 2006, Anm. d. Red.] ist viel von Patriotismus und Nationalgefühl die Rede.  Politiker bemängeln mangelnden Patriotismus bei Arbeitgebern, die auf Steuersenkungen drängen, gleichzeitig aber kaum ausbilden oder wie der Allianz-Konzern trotz Milliardengewinnen Tausende entlassen wollen?

Es gibt in diesem Land Unternehmen, die sich als vaterlandslose Gesellen herausstellen. Der Profit ist ihnen allemal wichtiger als ihre soziale Verantwortung hier in Deutschland. Die Allianz ist hier nur ein trauriges Beispiel. Die Große Koalition muss das Verhältnis von Subventionen und Gegenleistungen – in Form von Arbeitsplätzen - ins Lot bringen. So müssen auch Nachlässe bei der Erbschaftsteuer unbedingt an das Fortbestehen von Arbeits- und Ausbildungsplätzen geknüpft werden – wieso sollte es sonst ein Zugeständnis des Staates geben?. Und was die mangelnde Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft insgesamt betrifft: Unsere Forderung nach einer Ausbildungsplatzabgabe bleibt auf dem Tisch.

Thema Gesundheitsreform: Die Große Koalition diskutiert über eine Steuerfinanzierung in zweistelliger Milliardenhöhe. Ist die Belastungsgrenze der Bürger nicht erreicht?

Erstens: Man soll sich nicht von Nebelkerzen blenden lassen. Zweitens: Zweistellige Milliardenbeträge können die Arbeitnehmer nicht aufbringen. Wir fordern eine dritte Säule der Finanzierung, indem auch für Kapitaleinkünfte Beiträge erhoben werden. Auch soll die Einführung der Kopfpauschale vorbereitet werden. Sie könnte bis zu 40 Euro zusätzlich im Monat betragen. Damit würden die Geringverdiener in jedem Fall überfordert. Diesen Einstieg in eine Kopfpauschale lehnen wir ab. Und: Die Arbeitgeber dürfen auf keinen Fall aus der solidarischen Finanzierung entlassen werden. Darüber hinaus fordern wir einen dauerhaften Solidarbeitrag der Privatversicherung.

Als kleine Steuerlösung wird erwogen, die Versicherung der Kinder über Steuern finanzieren. Wären Sie damit einverstanden?

Bei jeder Art von Steuerfinanzierung muss sichergestellt werden, dass die Bürger nach ihrer Leistungsfähigkeit an der Finanzierung des Systems beteiligt werden.

Probleme mit Hartz IV: Was muss geändert werden, damit die Kosten für Langzeitarbeitslose nicht weiter ausufern?

Weitere Einschränkungen der Leistungen für Hartz-IV-Empfänger kann es nicht geben. Wichtig ist, dass man den Leuten sozial versicherte Arbeit anbietet. Die Unternehmen müssen in die Pflicht genommen werden. Über Schmarotzer-Debatten kommt man nicht weiter. Wer sie führt, sollte selbst mal versuchen, mit 345 Euro über die Runden zu kommen.

Es war SPD-Chef Kurt Beck, der gefordert hat, dass Langzeitarbeitslose nicht alle Leistungen ausnutzen sollten, die ihnen zustehen.

Auf staatliche Leistungen hat man Anspruch. Bei Kurt Becks Vorstoß hatte ich eher den Eindruck, er meint diejenigen, die nicht zu den Hartz IV-Empfängern gehören.  Denn mit Blick auf die Kreativität bei der Steuererklärung sage ich: Mitnahmementalität gibt es ja wohl vor allem in den oberen Einkommensklassen.

Europa in der Verfassungskrise – was tun?

Ich halte den Verfassungsentwurf seit dem Nein in Frankreich und den Niederlanden für überholt. Man sollte auch keinen neuen Anlauf mehr starten. Statt Vergangenes wiederzubeleben bin ich dafür, Neues zu wagen. Ich möchte das Europäische Parlament dafür gewinnen, dass es nach seiner nächsten Wahl als verfassungsgebende Versammlung eine demokratische und soziale Ordnung für Europa entwirft. Dann sollen die Bürger der EU, der Souverän, über den Entwurf abstimmen. Damit würde Europa in den Augen von uns Europäern auch wieder zu unserer Sache. Die Entfremdung zwischen den Bürgern und dem, was seit Jahren in Brüssel und Straßburg passiert, ist einfach zu groß. Diese Kluft ist nur mit einem demokratischen Prozess zu überwinden.

Interview: Andreas Herholz und Christoph Slangen


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