Deutscher Gewerkschaftsbund

22.08.2008

Der Aufschwung ist stark gefährdet

Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer sieht den Aufschwung gefährdet. Im Interview mit der NRZ regte er ein staatliches Investitionsprogramm an. Gezielte öffentlichen Investitionen kämen der heimischen Wirtschaft und damit den Arbeitnehmern zugute. Dies bringe mehr, als jedem Bürger einen Scheck nach US-Vorbild zu schicken.

WR: Die Konjunktur kühlt ab. Ist der Aufschwung schon wieder vorüber, ehe er bei den Bürgern angekommen ist?

Sommer: Der Aufschwung ist stark gefährdet. Wenn die Wirtschaft zwei Quartale hintereinander schrumpft, nennen das die Ökonomen Rezession. Wir wollen aber keine Krise herbeireden. Damit ist niemand geholfen. Wir wissen noch nicht, ob es nur eine Wachstumsdelle ist oder ein richtiger Abschwung.

WR: Ökonomen fordern bereits ein staatliches Konjunkturprogramm. Der DGB auch?

Sommer: Um rechtzeitig gegenzusteuern wäre ein staatliches Investitionsprogramm im Herbst die richtige Antwort. Das müsste bereits im Oktober greifen, um eine Rezession zu verhindern.

WR: Was muss geschehen?

Sommer: Der Umfang sollte ein Prozent der Wirtschaftsleistung betragen, also 25 Milliarden Euro. Diese Summe sollte nicht mit der Gießkanne verteilt werden, sondern gezielt für öffentliche Investitionen. Die liegen in Deutschland ohnehin unter dem EU-Durchschnitt. Es gibt genug Ansatzpunkte für ein Infrastrukturpaket, im Bereich Bildung und Schulen, bei der Pflege, im Straßenbau, bei öffentlichen Strom-, Wasser-, Gasnetzen und Energiesparmaßnahmen im Altbaubestand. Das käme alles der heimischen Wirtschaft zugute und damit den Arbeitnehmern. Das bringt mehr, als jedem Bürger einen Scheck zu schicken, wie das beispielsweise die US-Regierung macht. Ein „guter Scheck“ wäre auch die Wiedereinführung der Pendlerpauschale. Das haben wir übrigens schon so gesehen, als die CSU noch deren Kürzung beschlossen hat.

WR: Das hilft aber Hartz IV-Empfängern, Rentnern und Geringverdienern nicht.

Sommer: Für diese Gruppe muss man tatsächlich überlegen, ob man beispielsweise bei den Energiekosten etwas tun kann - über die Mehrwertsteuer, mit Schecks oder ermäßigten Tarifen.

WR: Es gibt Vorschläge, die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke zu verlängern, um damit Sozialtarife für Strom zu finanzieren.

Sommer: Das ist kein gangbarer Weg. Wir müssen am Atomausstieg festhalten. Der richtige Weg ist der Ausbau erneuerbarer Energien, in diese Richtung sollten Forschung und Entwicklung laufen. Denn wir müssen die Energiepolitik umsteuern. Wenn beim Atomausstieg gewackelt wird, setzt das falsche Signale.

WR: Welche Wirkungen hat der Konjunktureinbruch auf dem Arbeitsmarkt?

Sommer: Noch einmal: Wir haben keinen Konjunktureinbruch, aber Gefahren für den Arbeitsmarkt sind da. Ich hoffe es nicht, aber Einbrüche bei der Beschäftigung sind möglich. Menschen, die in Mini-Jobs, oder Leiharbeit tätig sind, würden es als erste zu spüren bekommen. Sie sind die ersten, die gehen müssen. Das ist die Folge von mehr als zehnjähriger verfehlter Arbeitsmarktpolitik, angefangen von Kanzler Helmut Kohl über die Agenda 2010 bis zur großen Koalition.

WR: Trotzdem will die große Koalition den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung auf mindestens drei Prozent senken. Geht das?

Sommer: Auch unsere Kollegen zahlen nicht gerne hohe Beiträge. Aber die Arbeitsagentur muss gerade im Abschwung in der Lage sein, aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. Ich habe die große Sorge, dass der Arbeitslosenbeitrag zur politischen Spielmasse im Wahlkampf verkommt und dazu dienen soll, die staatliche Festsetzung des neuen Einheitsbeitrages zum Gesundheitsfonds zu kaschieren. Die Politik der Verschiebebahnhöhe zwischen den Sozialkassen ist fatal. Daher: Wir wollen keine weitere Absenkung unter 3 Prozent.

WR: Es gibt immer mehr Mini-Jobs, Zeit- und Leiharbeit. Die Bedingungen für viele Arbeitnehmer werden immer härter. Was unternimmt der DGB dagegen?

Sommer: Der Staat subventioniert die Minijobs mit entgangenen Steuern und Sozialbeiträgen im Umfang von vier Milliarden Euro im Jahr. Darüber hinaus haben die politisch Verantwortlichen die Menschen mit der Drohung Hartz IV in prekäre Arbeitsverhältnisse getrieben. Das steckt in den Köpfen drin, in Cottbus und in Dortmund. Aber die Menschen hängen natürlich trotzdem an ihren Arbeitsplätzen, auch unter verschlechterten Bedingungen. Die Gewerkschaften wollen mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und wir wollen dazu beitragen, dass Menschen bei der Arbeit selbstbewusst auftreten können.

WR: Zu Beginn der Kanzlerschaft haben Sie Ihr gutes Verhältnis zu Angela Merkel betont. Was ist daraus geworden?

Sommer: Was den Stil betrifft, ist das Verhältnis nach wie von Achtung und Offenheit geprägt . Es ist professionell und geschäftsmäßig. WR: Der Aufschwung kommt bei den Bürgern nicht an. Stattdessen steigen die Energiepreise. Die Inflation liegt bei 3,3 Prozent. Wie sieht die DGB-Bilanz der großen Koalition aus?

Sommer: Wenn ich einen Strich unter positive und negative Projekte ziehe, überwiegen die negativen – von der Mehrwertsteuererhöhung bis zur Rente mit 67. Und in vielen Punkten kann ich die Haltung von Angela Merkel schlichtweg nicht nachvollziehen, zum Beispiel bei Fragen der sozialen Marktwirtschaft, bei Leiharbeit oder bei Mindestlöhnen. Und ich erwarte von einer Bundeskanzlerin, dass sie sich auch zum Datenschutz für Arbeitnehmer äußert. Nach Lidl, Aldi, Telekom und jetzt den Call-Centern hilft es nicht, nur nett in die Kameras zu lächeln. Es ist auch ihre Angelegenheit, sich darum zu kümmern, wie Arbeitnehmer in diesem Land behandelt werden: ob sie ausspioniert und verdächtigt werden, oder in ihren Umkleidekabinen kleine Kameras installiert werden.

NRZ, 22. August 2008


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