Deutscher Gewerkschaftsbund

02.10.2013
Arbeitsmarkt auf den Punkt gebracht

Arbeitslosenversicherung: Gesellschaftliche Aufgaben oder Griff des Bundes ins Beitragssystem?

Fast 10 Prozent der Einnahmen der Arbeitslosenversicherung fließen in Leistungen, die auch Nichtversicherten zu Gute kommen. Diese Umverteilung zu Lasten der BeitragszahlerInnen muss beendet, gesamtgesellschaftliche Aufgaben endlich über Steuern des Bundes finanziert werden, so der DGB in seiner Analyse.

Die Leistungen der Arbeitslosenversicherung gehen weit über die Versichertengemeinschaft hinaus. Anders als in einer Privatversicherung werden sie nicht nur zur Schadensregulierung der Versicherten verwendet. So steht die Berufsberatung allen offen, egal ob man Beiträge bezahlt hat. Darüber hinaus werden der Arbeitslosenkasse und damit den Beitragszahlern auch sozialstaatliche Aufgaben aufgebürdet, die eigentlich alle Bundesbürger finanzieren müssten. Der Katalog dieser gesamtgesellschaftlichen Leistungen ist lang und reicht von den Aufwendungen der Bundesagentur (BA) für Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) bis zur Finanzierung des Schulabschlusses für Arbeitslose. 2012 mussten allein für diese Aufgaben rund  3,4 Milliarden Euro – etwa 10 Prozent der Gesamtausgaben der BA- das ist mehr als ein Drittel der gesamten arbeitsmarktpolitischen Fördermittel aufgewendet werden. Ein beachtliches Beitragsvolumen wird so vom Bund zweckentfremdet.

1. Was sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben?

Der Verwaltungsrat der BA hat sich mehrfach mit großer Mehrheit auf Abgrenzungs- und Quantifizierungskriterien verständigt. Maßgeblich für die Beurteilung war zunächst, inwieweit eine Leistung an Personen gewährt wird, die Beiträge gezahlt und Ansprüche auf die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld haben. Über dieses relativ enge Versicherungsprinzip hinaus wurden auch jene Leistungen einbezogen, die eine potentielle Beitragspflicht begründen. So wurden die Berufsberatung, die Berufsausbildungsbeihilfe an Auszubildende und behinderte Auszubildende der Versicherungsleistung zugeordnet. Streitig ist, ob die berufliche Erstausbildung Jugendlicher über Sozialbeiträge oder wie ein Studium über Steuermittel finanziert werden soll.

2. Umfang gesamtgesellschaftlicher Aufgaben in der Arbeitslosenversicherung

Orientiert an dieser Aufgabendifferenzierung des BA-Verwaltungsrates mussten 2012 knapp 3,4 Milliarden Euro für gesamtgesellschaftliche Aufgaben aufgewendet werden. Dies entspricht einem Anteil von 9,7 Prozent der Gesamtausgaben. Das sind 37 Prozent aller Ausgaben für aktive Arbeitsförderung im Versicherungssystem. Die Versichertengemeinschaft leistet folglich einen beachtlichen Beitrag zur Erfüllung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben. Dazu gehören:

  • Ausgaben im Rahmen der Förderung von Maßnahmen in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Für die individuelle Förderung von Maßnahmen in WfbM mussten 2012 mehr als 700 Millionen  Euro aufgewendet werden und zwar für einen Personenkreis, der bisher im Regelfall nicht versicherungspflichtig war und überwiegend auch nicht sein wird. Denn die Übertrittsquote aus WfbM in den allgemeinen Arbeitsmarkt liegt bei unter einem Prozent.
  • Die Leistungen der beruflichen Rehabilitation im Rahmen der Ersteingliederung von Menschen mit Behinderung. Dies gilt ebenso für berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen für benachteiligte jugendliche Hartz-IV-Empfänger.
  • Präventive Maßnahmen, die während der Schulzeit durchgeführt werden und über die üblichen Beratungsleistungen der BA hinausgehen. Dazu gehören die 2007 neu eingeführte erweiterte vertiefte Berufsorientierung, die Berufseinstiegsbegleitung an Schulen sowie die Maßnahmen zum nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses.

Diese nicht beitragsgedeckten Leistungen finanziert die Versichertengemeinschaft. In den Vorjahren waren diese Aufgaben zum Teil noch deutlich größer – 2009 erreichten sie mit 4,4 Milliarden Euro den bisherigen Höchststand. Der Anteil der gesamtgesellschaftlichen Aufgaben schwankte dabei in den letzten Jahren zwischen mehr als einem Viertel der aktiven Arbeitsförderung bis zu mehr als einem Drittel. Auch in der Finanzkrise 2009/10 – mit deutlich steigenden Ausgaben der Versichertengemeinschaft (insbesondere bei Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld) – entfiel immer noch ein Anteil von 26 Prozent der aktiven Arbeitsförderung auf die gesamtgesellschaftlichen Leistungen.

Quelle: eigene Berechnung nach Haushaltsplänen der BA sowie Sonderauswertung der BA-Haushaltsdaten

Gesamtgesellschaftliche Ausgaben der Arbeitsförderung

Haushaltsjahr

Haushalt insgesamt in Milliarden €

Ausgaben für       Arbeitsförderung insgesamt in Milliarden €

absolut
in Milliarden €

in v. H. der
Gesamtausgaben

in v. H. der
Arbeitsförderung

2009

48,1

16,8

4,40

9,1

26,2

2010

45,2

15,0

4,01

8,9

26,7

2011

37,5

11,2

3,61

9,6

32,2

2012

34,8

9,0

3,39

9,7

37,7

3. Verteilungswirkungen gesamtgesellschaftlicher Leistungen

Diese gesamtgesellschaftlichen Leistungen sind ein wichtiges Element des Sozialstaates. Diese Leistungen gehen aber weit über die Versichertengemeinschaft hinaus und sollten aus Steuermitteln finanziert werden. Die Frage, ob Beitrags- oder Steuerfinanzierung, ist verteilungspolitisch bedeutsam, da an der Finanzierung aus Steuermitteln ein wesentlich größerer Personenkreis beteiligt ist. Viele Steuerpflichtige, wie Selbständige oder Beamte, zahlen keine Arbeitslosenbeiträge. Der Beitragssatz ist zudem konstant, während die Einkommenssteuer progressiv mit dem Einkommen steigt. Ferner gilt die Beitragsbemessungsgrenze, oberhalb der keine Sozialbeiträge entrichtet werden müssen. Zudem ist das Existenzminimum einkommensteuerfrei, während Sozialbeiträge auch von sozialversicherten Jobs erhoben werden, die nicht existenzsichernd sind. Wenn die Finanzierung allgemeiner sozialstaatlicher Leistungen in die Versicherungssysteme verschoben wird, werden die Sozialbeiträge zweckentfremdet, wodurch die mit den Steuerreformen der letzten Jahre verbundene Umverteilung von unten nach oben fortgesetzt wird.

Bisher jedenfalls hat der Bund keinerlei Interesse, den ungerechtfertigten Griff in die Beitragszahler-Taschen zu beenden. Im Gegenteil: Er hat – durch Weisung an die BA eine 30-jährige Praxis „auf kaltem Weg“ zu ändern  – die Übernahme der Rentenversicherungsbeiträge im Bereich der Behindertenwerkstätten zu Lasten der Arbeitslosenversicherung zu ändern versucht. Auf Initiative des BA-Verwaltungsrates hat die BA erfolgreich gegen den Bund geklagt. Obwohl das Bayerische Landessozialgericht die Weisung des Bundes aufgehoben und keine Revision zugelassen hatte, wollte der Bund die Rechtslage rückwirkend ab 2008 doch noch ändern, um an das Geld der Beitragszahler zu kommen. Politische Initiativen von Vorstand und Verwaltungsrat der BA haben dazu geführt, dass die verfassungsrechtlich problematische Gesetzesnovelle zumindest nicht rückwirkend, sondern zum 1. Januar 2012 in Kraft gesetzt wurde. 120 Millionen Euro jährlich wurden so vom Steuersystem auf die Beitragszahler verlagert, während zumindest für die vier Jahre ab 2008 noch insgesamt rund 470 Millionen Euro Rentenversicherungsbeiträge übernommen wurden.

4. Beteiligung des Bundes an der Arbeitsförderung

Der Bund macht allzu gerne eine Gegenrechnung auf und verweist auf seine „Beteiligung“ an den Kosten der Arbeitsförderung. Doch seit 2013 wurden diese Mittel des Bundes ganz gestrichen und die Einnahmebasis des Versicherungssystems massiv geschwächt. Die Arbeitslosenversicherung ist erstmals in der bundesdeutschen Geschichte auf sich selbst verwiesen und muss unerwartete konjunkturelle Einbrüche ausschließlich aus ihren Beiträgen finanzieren. Bereits im Jahr 2006 wurde die Defizithaftung des Bundes für unerwartete konjunkturelle Risiken der Arbeitslosenversicherung abgeschafft. Gerechtfertigt wurde dies mit der ab 2007 eingeführten indirekten Beteiligung der Arbeitslosenversicherung am Mehrwertsteueraufkommen.

Die große Koalition hatte sich mit der Mehrwertsteuererhöhung um drei Prozentpunkte ab 2007 darauf verständigt, einen Beitragspunkt an die Arbeitslosenversicherung weiterzuleiten. So sollte die Senkung der Arbeitslosenbeiträge von der Steuerseite unterstützt werden. Diese Steuermittel (ca. 8 Milliarden Euro) sollten unmittelbar zur Beitragssenkung und zur Entlastung des Faktors „Arbeit“ bzw. der Lohnnebenkosten beitragen. Doch dieses Versprechen hat die Bundesregierung gebrochen und stellt die Zuweisungen aus der Mehrwertsteuererhöhung ganz ein. Die Beitragssenkung wurde folglich in vollem Umfang innerhalb des Versicherungssystems realisiert. Lediglich für die Zeit von 2007 bis 2012 haben diese Steuermittel die Beitragssenkung unterstützt. Eine gleichzeitige Anrechnung dieses Mehrwertsteueraufkommens zur Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben ist nicht möglich oder wäre unseriös. Dieser Mehrwertsteuertransfer wurde 2012 bereits gekürzt und Anfang 2013 ganz eingestellt.

Auch an anderer Stelle zweckentfremdet der Bund Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Über den Aussteuerungs- bzw. Eingliederungsbeitrag mussten die Versicherten ab 2005 die Hälfte der Eingliederungsleistungen für Hartz IV-Empfänger sowie anteilige Verwaltungskosten finanzieren und zwar knapp 4 Milliarden Euro pro Jahr. Diese Umleitung von Beitragsmitteln in den Bundeshaushalt sahen DGB und Arbeitgeber (BDA) gleichermaßen für verfassungswidrig an. Auch wegen dieser Kritik wurde diese „Zwangsabgabe“ ab 2013 gestrichen.

5. Fazit

Die Versichertengemeinschaft muss ein beachtliches Finanzvolumen für gesamtgesellschaftliche Leistungen aufwenden. Diese Leistungen sind sinnvolle bildungspolitische bzw. sozialstaatliche Aufgaben, die jedoch weit über den Zuständigkeitsbereich eines Versicherungssystems hinausgehen. In anderen Sicherungssystemen, wie  bei der Rente,  werden diese Aufgaben zumindest teilweise über den Staatshaushalt finanziert. Die Arbeitslosenversicherung hingegen wird vom Bund allein gelassen und muss diese in vollem Umfang über Beiträge finanzieren. Selbst Klagen der BA und verlorene Prozesse haben den Bund bisher nicht zu einem neuen Problembewusstsein bewegen können.

Damit treibt der Bund seine eigene Haushaltskonsolidierung voran, schränkt aber dadurch finanzielle Handlungsspielräume der Arbeitslosenversicherung massiv ein. Dies belastet das Versicherungssystem mit bis zu 4 Milliarden Euro jährlich. Dies entspricht fast einem halben Beitragspunkt – Mittel, die anderenfalls für Leistungsverbesserungen von Arbeitslosengeldempfängern bzw. Beitragssenkungen zur Verfügung stehen könnten.

In gleichem Umfang werden die Steuerzahler entlastet und sozialversichertes Erwerbseinkommen zusätzlich belastet. Wenn  gesamtgesellschaftliche  Aufgaben über Sozialbeiträge finanziert werden müssen, wird damit immer von niedrigen zu höheren Einkommen umverteilt.

Zugleich schwächt diese Umverteilung die Legitimation des Versicherungssystems. Die Eingangshürden für einen Versicherungsanspruch sind so hoch, dass viele Beitragszahler bei Arbeitslosigkeit finanziell leer ausgehen. Immer wieder müssen die engen finanziellen Handlungsspielräume dafür herhalten, eine bessere Einbeziehung von befristet und prekär Beschäftigten in den Versicherungsschutz zu verhindern. Dabei mussten sie zuvor über ihre Sozialbeiträge diese gesamtgesellschaftlichen Aufgaben mitfinanzieren.

Nicht einmal ausreichende Rücklagen kann die Arbeitslosenversicherung aufbauen, um ihre wichtige antizyklische Stabilisierungsfunktion wahrnehmen zu können. Wie notwendig eine Rücklage ist, zeigt die letzte Finanzkrise, in der der Bund die Banken mit Milliarden gestützt hat, die Arbeitslosenversicherung aber eine Beitragsrücklage von 18 Milliarden Euro zur Stabilisierung der Konjunktur und der arbeitsmarktpolitischen Folgen der Finanzkrise eingesetzt hat.

Trotz guter Konjunktur der letzten Jahre konnte die Arbeitslosenversicherung nur eine Rücklage von derzeit 2,5 Milliarden Euro aufbauen, die 2013 jedoch weiter abschmelzen wird. Ursprünglich kalkulierte die Bundesagentur für Arbeit für dieses Jahr mit knapp einer Milliarde Euro Defizit, das jedoch wegen relativ günstiger Rahmendaten etwas niedriger ausfallen dürfte. Durch den massiven Entzug von Bundesmitteln bleibt die Arbeitslosenversicherung aber in den roten Zahlen.

Ökonomisch und verteilungspolitisch dringend erforderlich ist es, die problematische Verschiebung zu Lasten der Versichertengemeinschaft zu beenden. Das beitragsfinanzierte System muss dringend entlastet und die gesamtgesellschaftlichen Aufgaben endlich über Steuermittel des Bundes finanziert werden. In einem ersten Schritt sollte der Bund zumindest die Aufwendungen für Menschen in Behindertenwerkstätten übernehmen und die Fördermaßnahmen für Hartz IV-Empfänger finanzieren, soweit diese bisher von der Versichertengemeinschaft getragen werden müssen.

Download der Studie


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Pe­ter Cle­ver: Ge­samt­ge­sell­schaft­li­che Auf­ga­ben ge­hö­ren in die Steu­er­last
BDA
Die beitragsfinanzierte Arbeitslosenversicherung muss eine Vielzahl gesamtgesellschaftlicher Aufgaben übernehmen. Peter Clever von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) sieht Arbeitnehmer und Arbeitgeber einig in der Beurteilung dieses Problems: "Die Arbeitslosenversicherung muss von der Finanzierungsverantwortung für gesamtgesellschaftliche Aufgaben befreit werden."
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