Deutscher Gewerkschaftsbund

21.11.2013
arbeitsmarkt auf den Punkt gebracht 05/2013

Brenke: Beschäftigungsquote und Zahl der prekären Jobs nehmen gleichzeitig zu

Die aktuelle Debatte um Mindestlöhne lenkt davon ab, dass auch die mittleren Entgelte in den letzten Jahren kaum gestiegen sind, meint Karl Brenke vom DIW. Als Ursache für die gestiegene Erwerbsquote sieht er die Zunahme von Teilzeitjobs und geringfügiger Beschäftigung.  Ein Interview zur Serie "Arbeitsmarkt auf den Punkt gebracht".

Porträt Karl Brenke DIW

Karl Brenke, DIW Berlin DIW

Herr Brenke, was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Gründe für die steigende Erwerbstätigkeit?

Karl Brenke: Was heißt steigende Erwerbstätigkeit? Aktuell steigt die Zahl der Beschäftigten kaum noch, und die Zahl der Arbeitslosen nimmt leicht zu. Rückblickend lässt sich zwar ein Anstieg bei der Zahl der erwerbstätigen Personen feststellen – etwa in der Zeit von 2000 bis 2013 um 6 Prozent oder 2,3 Millionen. Bei der Zahl der geleisteten Stunden gab es im selben Zeitraum aber lediglich eine Stagnation. Der Beschäftigungsaufbau pro Kopf betrachtet ging also mit vermehrter Teilzeittätigkeit und geringfügiger Beschäftigung einher.

Mehr gearbeitet wurde in der Summe nicht, denn die Wirtschaftsleistung hat sich seit Beginn der letzten Dekade nicht so dynamisch entwickelt, dass auch das Arbeitsvolumen ausgeweitet werden konnte. Die Wirtschaft war viel zu sehr auf den Export ausgerichtet, und es wurden permanent hohe Außenhandelsüberschüsse erzielt. An dem Gerede vom „kranken Mann Europas“ war nie etwas dran. Die Kehrseite der Medaille war die schwache Binnennachfrage, was vor allem auf die schwache Einkommensentwicklung zurückzuführen ist. Die Gewerkschaften haben es nicht geschafft und es vielleicht mitunter auch zuwenig darauf angelegt, die Verteilungsspielräume auszuschöpfen, die von der Produktivitätsentwicklung und Teuerung her gegeben waren.

Inzwischen zählen auch Beschäftigte im Kernbereich des ersten Arbeitsmarktes häufiger zu den Geringverdienern. Teilen Sie diese Einschätzung?

In der Tat hat sich der Niedriglohnsektor stark ausgeweitet. Allerdings steigt seit 2006 die Zahl der Niedriglöhner nur noch im Gleichschritt mit der Zahl aller Beschäftigten; der Anteil der abhängig Beschäftigten, die auf den Niedriglohnsektor entfallen, wächst seitdem nicht mehr. Das passt wenig zu der Auffassung, dass erst mit der Hartz IV-Reform die Arbeitslosen zur Aufnahme eines Jobs angereizt wurden, da sie zuvor zu wenig leistungsbereit waren und übermäßige Lohnvorstellungen gestellt  hatten. Vielmehr lässt sich zeigen, dass deren Lohnansprüche auch schon vor der Reform gering waren und sich danach auch nicht nennenswert verändert haben. Den Arbeitslosen mangelte es nicht an Arbeitsmoral, sondern an Beschäftigungsmöglichkeiten. Das gilt natürlich auch heute noch. Zurück zum Niedriglohnsektor: Sein Wachstum hängt auch stark mit der Ausbreitung von Teilzeit- und geringfügiger Beschäftigung zusammen, dem Trend hin zum Dienstleistungssektor und daher auch mit der Beschäftigung in eher kleinen Betrieben – also mit dem Wachstum solcher Wirtschaftsbereiche, in denen die gewerkschaftlichen Einflussmöglichkeiten schon traditionell gering sind. Hinzu kamen politische Eingriffe wie die Abschaffung der Arbeitszeitbegrenzung bei den Minijobs im Jahr 2003.

Nicht zuletzt spielen auch die schwache Wirtschaftskraft in Ostdeutschland und die dort geringe Entlohnung eine  eher erhebliche Rolle. Allerdings hatte sich auch in den alten Bundesländern die Zahl der nur gering entlohnten Arbeitskräfte vermehrt – auch unter den Arbeitnehmern mit einem Vollzeitjob. Gehörten dem Niedriglohnsektor dort noch Mitte der Achtziger Jahre lediglich weniger als ein Zehntel aller abhängig Beschäftigten mit einer Vollzeitstelle an, war es im Jahr 2011 jeder siebte. Von allen abhängig Beschäftigten zählt indes knapp ein Viertel zum Niedriglohnsektor. Eigentlich müsste man das rasante Wachstum der letzten Jahre bei den Solo-Selbständigen, Alleinunternehmern, Freischaffenden einbeziehen. Von denen kommt sogar ein Drittel nur auf ein Einkommen, das bei den Arbeitnehmern dem Niedriglohnsektor entspricht.

Ist eine steigende Ungleichheit der Preis für steigende Beschäftigung?

Diese Ansicht könnte sich aus mikroökonomischer Sicht oder aus der Froschperspektive einzelner Unternehmen aufdrängen. Aus einem weiteren Blickwinkel betrachtet besteht aber mehrheitlich in der Forschung die Auffassung, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Wenn sich die Einkommensschere immer weiter öffnet, erhöht sich überproportional das Einkommen derjenigen, die allgemein eher viel sparen und wenig konsumieren. Das Nachsehen haben diejenigen Bevölkerungsteile, die gern mehr ausgeben würden, es aber nicht können, weil ihre Einkünfte nur schwach oder gar nicht steigen. Die Binnennachfrage, die weiterhin die weitaus wichtigste Stütze der deutschen Wirtschaft ist, kann daher kaum wachsen. In den letzten zwei Jahren hatten sich die Löhne zwar etwas besser entwickelt und auch den privaten Verbrauch angeschoben, im Verlauf dieses Jahres blieben sie aber wieder stark hinter den Gewinnen zurück. Es ist daher eine offensivere Lohnpolitik erforderlich, die die Arbeitnehmer stärker an den Zuwächsen bei der Wirtschaftsleistung teilhaben lässt.

Die aktuell im Vordergrund stehende Debatte um Mindestlöhne reduziert indes Lohnpolitik nahezu auf Sozialpolitik und lenkt davon ab, dass auch im mittleren Lohnbereich die Entgelte alles andere als kräftig gestiegen sind oder gegenwärtig zulegen. Absurd ist es deshalb, dass sich gerade solche politischen Verantwortlichen für Mindestlöhne einsetzen, die in ihrem öffentlichen Dienst Arbeitnehmern die Lohnanpassung an bestehende Tarifverträge verweigern.


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DGB/Simone M. Neumann
„Rekord bei der Beschäftigung“ und „mehr reguläre Jobs“, so lauten aktuelle Schlagzeilen zum Arbeitsmarkt. Die Arbeitgeberverbände kommen gar zu der Einschätzung, die Zahl der so genannten Normalarbeitsplätze nehme seit 2006 stetig zu. Ein genauer Blick zeigt jedoch: den Wandel der Arbeitswelt begleitet ein schleichender Bedeutungsverlust des Normalarbeitsverhältnisses.
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