Deutscher Gewerkschaftsbund

22.06.2011
Drei Fragen - an Wilhelm Adamy

Fachkräftemangel: Bund vernachlässigt Bildungsinvestitionen

Die deutsche Wirtschaft boomt. Von Fachkräftemangel ist die Rede, gar von Vollbeschäftigung. Dabei ist der Arbeitsmarkt gespalten wie nie. Trotzdem streicht der Bund Bildungsinvestitionen. Drei Fragen an den DGB-Arbeitsmarktexperten Wilhelm Adamy.

Die deutsche Wirtschaft boomt, ist derzeit zu lesen. Die Zahl der Erwerbstätigen steigt, inzwischen gehen 41,3 Millionen Menschen wieder einer Arbeit nach – besagt die Statistik. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft sieht Deutschland gar „auf dem Weg zur Vollbeschäftigung“. Was ist da dran?

Wilhelm Adamy: Bei den Erfolgsmeldungen wird gerne ausgeblendet, dass 4,9 Millionen Menschen nur einen Mini-Job haben und auch fast 200.000 Ein-Euro-Jobber zu den Erwerbstätigen zählen. Der Anteil der sozial versichert Beschäftigten hingegen geht langfristig deutlich zurück. So hatten 1992 noch drei Viertel (77,1 Prozent) einen sozial versicherten Job. Heute sind es nur noch knapp 69 Prozent aller Erwerbstätigen. Auch bei anziehender Konjunktur und Beschäftigung haben immer noch 2,84 Millionen abhängig Beschäftigte in den letzten zwölf Monaten den Job auf dem Ersten Arbeitsmarkt verloren und sind arbeitslos geworden. Insbesondere in der Leiharbeit ist das Risiko der Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vorjahr noch gestiegen, viele rutschen direkt ins Hartz IV-System.

In der alten Bundesrepublik war nach Ende der 50er Jahre schon einmal die Rede von Vollbeschäftigung. Damals lag die Arbeitslosenquote unter zwei Prozent. Was ist heute anders?


Die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich sind viel größer geworden. Heute geht der Aufschwung an vielen Arbeitnehmern vorbei, insbesondere Geringqualifizierte mussten in den letzten 20 Jahren reale Einkommenseinbußen hinnehmen. Auch im Mai 2011 suchten offiziell immer noch 5,213 Millionen Menschen einen (neuen) Arbeitsplatz. Prekäre Beschäftigung und Niedriglohnsektor breiten sich aus. Heute ist fast jede zweite Neueinstellung befristet. Viele können von ihrer Arbeit nicht mehr leben, sind auf Zweit- oder Drittjobs angewiesen. Allein für 750.000 Menschen mit sozial versichertem Job muss der nicht existenzsichernde Lohn noch durch Hartz IV aufgestockt werden. Billigjobs passen aber keinesfalls zu qualitativ guten Produkten.

Auch wenn viele Industriegüter heute in Asien gefertigt werden, gerade, wenn es um Güter aus High-Tech-Branchen geht, ist „Made in Germany“ gefragt. Müsste die Überwindung des gespaltenen Arbeitsmarktes – hoch bezahlte, sozial versicherte Fachkräfte einerseits, prekär Beschäftigte andererseits – nicht oberste Priorität genießen?

Die Arbeitsmarktsituation von Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten bleibt prekär. Jeder fünfte von ihnen ist immer noch arbeitslos. In einzelnen Berufen gibt es einen Mangel, etwa in Gesundheits- und Pflegeberufen und bei Ingenieuren im Maschinen und Fahrzeugbau sowie bei Elektroingenieuren. Aus- und Weiterbildung sind der beste Schutz gegen Arbeitslosigkeit und für einen wettbewerbsfähigen und innovativen Wirtschaftsstandort. Auf Initiative der DGB-Vertreter in der Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit konnten zwei Sonderprogramme aufgelegt werden,. Mit diesen wird die Weiterbildung von arbeitslosen Un- und Angelernten im Betrieb gefördert und betriebliche Defizite in der Weiterbildung können damit reduziert werden.
Doch dies ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, denn die Qualifizierungsoffensive vergangener Tage ist längst gestoppt. Unter den jungen Menschen sind heute weit mehr ohne Berufsabschluss als unter den älteren Arbeitnehmern. Immer noch verlassen über sieben Prozent die Schule ohne Abschluss und haben in der Altersgruppe der 20-30jährigen 1,5 Millionen keinen Berufsabschluss. Diese Opfer der Ausbildungsmisere der letzten Jahre brauchen eine „zweite Chance“ auf einen Schul- bzw. Berufsabschluss. Doch statt ein steuerfinanziertes Bundesprogramm aufzulegen streicht der Bund die Mittel für Arbeitsförderung zusammen. Notwendige Bildungsinvestitionen in junge Menschen werden sträflich vernachlässigt.

Wilhelm Adamy leitet die Abteilung Arbeitsmarktpolitik beim DGB-Bundesvorstand.


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