Deutscher Gewerkschaftsbund

04.07.2016
Arbeitszeit

Rund um die Uhr bereit

einblick 09/2016

Wie sehr darf Erwerbsarbeit das Privatleben dominieren? Eine Frage, die sich auch an 24-Stunden-Kindertagesstätten entzündet. Ob familienfeindliche Arbeitszeiten tatsächlich unvermeidbar sind, fragt Publizist Thomas Gesterkamp und plädiert für eine neue Arbeitszeitdebatte.

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Lorenz Caffier, der CDU-Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, unterstützte im letzten Jahr die Planung einer 24-Stunden-Kita in Rostock. In der Landeshauptstadt Schwerin betreibt eine gemeinnützige GmbH bereits zwei solche Einrichtungen: 2009 entstand auf dem Gelände der Helios-Klinken die Kita “nidulus”, 2014 folgte “nidulus duo”. Zielgruppe sind vorrangig Kinder, deren Eltern Schichtdienste im Krankenhaus leisten.

In Rostock hatten vor allem Universität und Polizei das Projekt vorangetrieben. Überraschender Widerstand kam von Steffen Bockhahn, dem Sozialsenator der Hansestadt. Der Politiker der Linkspartei verwies nicht nur auf die unklare Finanzierung des Vorhabens, sondern auch auf das Kindeswohl. Der Stadt fehle das Geld, noch wichtiger aber waren für Bockhahn die pädagogischen Bedenken aus dem Jugendamt. Im Oktober 2015 startete die Kita zwar den Regelbetrieb tagsüber, die Entscheidung zur Betreuung über Nacht aber wurde vertagt.

 

„In vielen Betrieben diktiert schlicht
der Zeitplan der Arbeitgeber, wann
Erwerbstätige mit ihren Kindern
zusammen sein können.“

 

Ein linker Senator blockiert den Ausbau einer Kita, ein CDU-Minister fördert ihn? Eine seitenverkehrte Welt, waren es doch einst gerade konservative UnionspolitikerInnen, die gegen „Fremdbetreuung“ wetterten – während SPD, Grüne und Linke mehr öffentliche Angebote forderten. Manchen Westdeutschen galt die Krippe für Kinder unter drei Jahren lange als Teufelszeug, als eine Art Relikt des DDR-Sozialismus. Erst allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Tagesstätten einen bedeutsamen Beitrag zur frühkindlichen Bildung leisten. Im Streit um die 24-Stunden-Kita spielen die alten polarisierten Standpunkte allerdings kaum noch eine Rolle. Der Disput dreht sich im Kern um eine sozialethische Frage: Wie sehr darf Erwerbsarbeit das Privatleben dominieren?

Bestimmte Abend- und Nachtschichten bei der Polizei oder im Gesundheitswesen sind unvermeidbar. Doch familienfeindliche Arbeitszeiten, mahnen KritikerInnen aus Kirchen und Gewerkschaften, sollten die Ausnahme bleiben und nicht zur akzeptierten Regel werden. Denn keineswegs überall handelt es sich um zwingende Notwendigkeiten. In vielen Betrieben diktiert schlicht der Zeitplan der Arbeitgeber, wann Erwerbstätige mit ihren Kindern zusammen sein können. Dort fehlt jedes Bewusstsein einer gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen und Institutionen, Eltern entgegenzukommen.

Unter dem Motto „Twenty-four – seven” propagieren UnternehmensberaterInnen ein angeblich modernes Arbeitsprinzip: stets im Einsatz, 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche. Im Betrieb zu Hause und zu Hause online. In einer solchen Rund-um-die Uhr-Ökonomie wird es kompliziert, abzuschalten und eine klare Grenze zwischen den verschiedenen Lebensbereichen zu ziehen – nicht nur als Ärztin, Busfahrer oder Streifenpolizistin.

Schon die übliche 40-Stunden-Woche plus Wegezeiten und freiwilliger Mehrarbeit ist für Familien ein ständiger Balanceakt – vor allem, wenn beide Elternteile eine volle Stelle haben. Im Westen Deutschlands wurde dieses Vereinbarkeits-Dilemma jahrzehntelang durch eine klare Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern gelöst: Der männliche Allein- oder zumindest Haupternährer hatte an seiner Seite die Hausfrau oder Zuverdienerin. Im sozialistischen Osten sollte umfangreiche staatliche Betreuung die Berufstätigkeit beider Eltern ermöglichen.

Aus gutem Grund hat die Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert immer wieder für eine Verkürzung der täglichen Arbeitszeit gestreikt. Der heute altmodisch klingende Begriff „Feierabend” markiert seither eine historische Errungenschaft, ein persönliches Refugium. Spielräume für Familie und Freunde, für Hobbys oder Ehrenämter ergeben sich nur, wenn das Private nicht zum Restposten verkommt, sich Lebensentwürfe nicht komplett der entlohnten Tätigkeit unterordnen müssen.

Das Engagement der Kirchen für den freien Sonntag, der Widerstand der Gewerkschaften gegen unnötige Samstagsarbeit, der Versuch von Betriebs- und Personalräten, abendliche Überstunden einzuschränken: Das waren und sind keine nostalgischen Kämpfe, sondern wichtige Elemente einer Auseinandersetzung, in der Beschäftigte und ihre Interessenvertretungen der Arbeitswelt als einzigem Taktgeber des Lebens Grenzen setzen.

Eltern, die allein erziehen oder als Paar parallel in der gleichen, ungünstig gelegenen Schicht arbeiten müssen, brauchen auf ihre Situation zugeschnittene Angebote. Selbstverständlich kann ein kleines Kind im Notfall mal eine Nacht außerhalb seiner gewohnten Umgebung verbringen. Doch die diskutierte Nonstop-Versorgung als Standardangebot setzt ein falsches Signal.

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist kein ausschließlich privates Problem, auch die Betriebe müssen ihren Beitrag leisten. Die 24-Stunden-Betreuung entlastet Unternehmen, die trotz machbarer Alternativen unbedingt an ihren gewohnten Zeittakten festhalten wollen. Es ist nicht die Aufgabe der Kita-Anbieter, mit Turbo-Dienstleistungen (und Nachtschichten für ErzieherInnen) die fehlende logistische Fantasie von Personalchefs anderer Branchen auszugleichen.


Dr. Thomas Gesterkamp ist Politikwissenschaftler und Autor in Köln. Den Druck, den die Erwerbsarbeit auf private Vereinbarkeitsmodelle ausübt, hat er in seinem Buch „gutesleben.de – Die neue Balance von Arbeit und Liebe” beschrieben (Klett Cotta).


 

 

 


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