Deutscher Gewerkschaftsbund

31.07.2007

"Wir müssen weg von der Geiz-ist-geil-Mentalität"

DGB-Vorstandsmitglied über nachhaltige Arbeitsmarktpolitik und Milliardenüberschüsse

DGB-Bundesvorstandsmitglied Annelie Buntenbach fordert Wirtschaft und Arbeitsmarktpolitik auf, wieder mehr in nachhaltige Qualifizierung zu investieren. Un- und Angelernte müssten eine zweite Chance erhalten. Die Verwaltungsratsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit lehnt zudem weitere Beitragssenkungen in der Arbeitslosenversicherung ab: "Jeder Konjunktureinbruch kann die BA-Überschüsse zum Schmelzen bringen wie Schnee in der Sonne".

AZ: Frau Buntenbach, warum wollen Sie den Arbeitnehmern nicht durch eine Beitragssenkung auf 3,2 Prozent zu mehr Geld in der Tasche verhelfen, wie die Arbeitgeber fordern.

Annelie Buntenbach: Es mutet schon etwas seltsam an, wie sich hier einige Arbeitgebervertreter als Schutzpatron der Beschäftigten aufspielen. Eine solche Haltung sollten sie besser bei Lohnverhandlungen und vor allem beim Thema Mindestlohn an den Tag legen. Wir freuen uns natürlich, wenn Arbeitnehmer möglichst viel von unseren Tariferhöhungen in der Tasche behalten. Es wäre aber falsch, die Beiträge zu senken, solange das Geld noch gar nicht in der Kasse ist. Bislang haben wir einen Überschuss von 1,34 Mrd. Euro, zum Jahresende erwarten wir 2,5 bis 3 Mrd. Euro. Ursprünglich mussten wir von einem Defizit für 2007 ausgehen. Das zeigt, wie schnell sich die Konjunktur – und damit auch die finanzielle Situation der BA drehen kann.

Selbst der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, der sonst eher konservativ rechnet, hält weitere Senkungen für möglich. Vor was haben Sie Bedenken?

Moment, bislang handelt es sich nur um Prognosen. Und auch wenn diese atemberaubend klingen mögen, können wir uns keine Finanzpolitik leisten, die auf Sand gebaut ist. Die Entwicklung an der Börse zeigt, wie schnell der Wind wieder drehen könnte. Wenn die Konjunktur einbrechen sollte, können sich die Voraussagen für die nächsten Jahre schnell ins Gegenteil verkehren. Jeder Konjunktureinbruch kann die BA-Überschüsse zum Schmelzen bringen wie Schnee in der Sonne. Eine Beitragssatzsenkung auf Pump wäre auch deshalb unverantwortlich, weil gerade in konjunkturell schwierigen Zeiten ausreichende Mittel für die Arbeitsförderung nötig sind. Deshalb ist es vordringlich, aus den vorhandenen Überschüssen eine ausreichende Rücklage für schlechte Zeiten zu bilden.

Ist es nicht richtig, wenn das Geld denen zurückgeführt wird, die es auch abgeführt haben?

Wenn die Prognosen eintreffen und die positive Entwicklung tatsächlich anhält, sollten wir darüber sprechen, wie die Beitragszahler, aber auch die Arbeitslosen davon profitieren können. Der DGB fordert eine Qualifizierungsoffensive und eine Verbesserung der Leistungen. Vor allem sollte das Arbeitslosengeld für ältere Arbeitslose verlängert werden. Das halten wir nicht zuletzt vor dem Hintergrund der drohenden Rente mit 67 für absolut notwendig, damit vor allem diejenigen, die jahrzehntelang Beiträge gezahlt haben, nicht am Ende des Arbeitslebens in Hartz IV abrutschen. Außerdem geht ein Teil der Überschüsse auf die Kürzungen bei Arbeitslosen zurück. Die Politik würde sich sicher keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn sie dies korrigiert. Wenn genug Geld da ist, müssen auch die Arbeitslosen davon profitieren.

Umverteilung also lieber über Steuern als über die Sozialversicherung?

Wir haben ein grundsätzliches Problem mit den sogenannten Verschiebebahnhöfen und dem Griff des Bundes in die Taschen der Beitragszahler. Wenn es an der einen Ecke nicht reicht, muss ein anderer Sozialversicherungszweig dazubuttern. Das Problem dabei ist, dass es immer auf Kosten der Kranken, Rentner und Arbeitslosen geht und sich die Spirale seit Jahren weiter nach unten dreht. Die Politik sollte einmal den Mut haben, die gesamtgesellschaftlichen Leistungen der Sozialversicherungen über Steuern zu finanzieren. Das wäre ein echter Befreiungsschlag. Voraussetzung dafür ist natürlich eine Steuerreform, die dafür sorgt, dass Unternehmen und Großverdiener angemessen Steuern zahlen. Stattdessen will die Bundesregierung jetzt die Kasse der BA noch stärker plündern und das Doppelte des Aussteuerungsbetrags, nämlich fünf Mrd. Euro, abzapfen. Das ist aus unserer Sicht genau der falsche Weg.

Die Bundesregierung hat gerade den Aufschwung für Langzeitarbeitslose ausgerufen. Teilen Sie diese Ansicht?

Ich halte das für etwas gewagt. Auch wenn erste erfreuliche Tendenzen spürbar sind, ist es längst noch nicht die breite Masse der Langzeitarbeitslosen, die vom Aufschwung tatsächlich profitiert. Die Abgänge aus der Langzeitarbeitslosigkeit sind oftmals Scheinerfolge. So ist jeder vierte Hartz-IV-Empfänger, der einen Job findet, nach 3 Monaten wieder da. Wir warnen vor solchen Drehtüreffekten. Vor allem die prekäre Beschäftigung macht uns zunehmend Probleme. Durch die Leiharbeit werden immer mehr reguläre Arbeitsplätze ersetzt. Teilweise sind es dieselben Menschen, die entlassen werden und danach mit deutlichen Lohnabschlägen die gleiche Arbeit im gleichen Betrieb tun müssen. Das hat nichts mit Flexibilisierung zu tun, sondern ist Lohndrückerei. Hier muss die Politik einen Riegel vorschieben. Uns geht es um eine nachhaltige Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Erst dann haben die Menschen wieder Perspektiven und Zuversicht.

Was muss für diese Klientel getan werden?

Wir müssen insgesamt wegkommen von der „Geiz ist geil“-Mentalität. Das gilt für die Wirtschaft wie auch für die Arbeitsmarktpolitik, ob nun Ein-Euro-Jobs oder unbezahlte Praktika, befristete Beschäftigung oder die Auswüchse bei der Leiharbeit. Wichtig ist, dass wieder mehr in nachhaltige Qualifizierung investiert wird und Un- und Angelernte eine zweite Chance erhalten. Die Möglichkeiten dazu sind jetzt da. Für diejenigen, die es trotz aller Anstrengungen kaum schaffen, im ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, brauchen wir den sozialen Arbeitsmarkt mit regulärer Beschäftigung. Hier ist die Bundesregierung auf dem richtigen Weg.

Sie sind gegen eine vorzeitige Öffnung des Arbeitsmarktes für Osteuropäer, weil sie ohne Mindestlöhne Lohndumping fürchten. Wie erklären sie sich die guten Erfahrungen bei Ländern wie Schweden oder Großbritannien mit der kompletten Marktöffnung gemacht haben?

Der Vergleich hinkt. Erstens hat Großbritannien einen Mindestlohn von knapp acht Euro, ohne dass dies negative Auswirkungen auf die Beschäftigung hat. Schweden hat im Gegensatz zu Deutschland eine Tarifbindung der Unternehmen von 90 Prozent, also ein deutlich besseres Netz gegen Lohndumping und hat weit mehr in Aus- und Weiterbildung investiert. Wir sind dafür, die Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit frühestens 2009 und auch erst dann aufzuheben, wenn wirksame Regelungen gegen Lohndumping in ganz Deutschland gelten. Dazu gehören die Ausweitung des Arbeitnehmerentsendegesetzes auf alle Branchen und ein Mindestlohn von nicht unter 7,50 Euro.

Firmen klagen über einen Mangel an Fachkräften. Können wir den Bedarf wirklich noch über das hiesige Potential decken?

Es ist unerträglich, dass die Wirtschaft alle Jahre wieder einen Fachkräftemangel beklagt, den sie – wenn es ihn wirklich geben sollte - selbst verschuldet hätte, weil die Unternehmen zu wenig in Aus- und Weiterbildung investieren. Aus dieser Verpflichtung dürfen wir Wirtschaft und Politik angesichts von immer noch 3,7 Millionen Arbeitslosen und gut 200.000 unversorgter Altbewerber um eine Lehrstelle nicht entlassen. Es gibt also aktuell keinen Grund die Grenzen zu öffnen. Wir können aber darüber nachdenken, Hochqualifizierten die Möglichkeiten erleichtern, hier zu arbeiten. Das gilt zum Beispiel für denjenigen, die lange in Deutschland studiert haben.

Wie müsste Ihrer Meinung nach die Zuwanderungsbedingungen für ausländische Arbeitskräfte geändert werden

Es ist zwar sachlich richtig, politisch aber ein Trauerspiel, dass die Koalition über neue Zuwanderungsregeln debattiert, nachdem sie gerade erst ein neues Zuwanderungsrecht beschlossen hat. Wir brauchen Regelungen für die eher ferne Zukunft, wenn aufgrund der demografischen Entwicklung tatsächlich Arbeitskräftemangel in Deutschland herrschen sollte. Der DGB hält dafür ein Punktesystem für die beste Lösung. Es könnte z.B. den Bedarf bei uns einerseits sowie andererseits die Qualifikation und Integrationsfähigkeit des Einwanderungswilligen berücksichtigten.

Interview Frank Astheimer
Frankfurter Allgemeine Zeitung


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