Deutscher Gewerkschaftsbund

07.03.2013
Arbeitsmarkt auf den Punkt gebracht 01/2013

Coenen-Marx: Kinderarmut ist eine der größten Herausforderungen

Trotz vieler politischer Bekenntnisse und diverser Maßnahmenpakete hat sich die Situation von Kindern aus Familien mit Armutsrisiko praktisch nicht verbessert. Kinderarmut sei deshalb "eine der größten Herausforderungen für unsere Zukunft", meint Cornelia Coenen-Marx, Leiterin des Referats Sozial- und Gesellschaftspolitik bei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Portrait Cornelia Coenen-Marx

Cornelia Coenen-Marx leitet bei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) das Referat Sozial- und Gesellschaftspolitik. EKD

Wir haben mit Frau Coenen-Marx über das Ausmaß von Kinderarmut gesprochen - und darüber, was das für eine Gesellschaft bedeutet. Die Oberkirchenrätin erklärt außerdem, was sie vom DGB-Maßnahmenbündel zur Bekämpfung von Kinderarmut hält. Coenen-Marx macht dabei klar, dass Kinderarmut vor allem auch mit der prekären Erwerbssituation der Eltern zu tun hat: "Wo Vater und Mutter keinen stabilen Arbeitsplatz und kein auskömmliches Einkommen haben, bleibt auch für die Kinder nur die Abhängigkeit vom Job-Center." Unsere drei Fragen an die EKD-Sozialexpertin:

Wie schätzen Sie die aktuelle Lage von Kindern aus Familien in prekären Verhältnissen ein?

Coenen-Marx: Kinderarmut ist eine der größten Herausforderungen für unsere Zukunft. Angesichts der demografischen Herausforderungen muss in besonderer Weise gelten: Kein Kind darf verloren gehen. Aber trotz aller politischen Bekenntnisse und einer Vielzahl von Programmen und „Paketen“ hat sich die Situation von Kindern aus Familien mit Armutsrisko noch nicht wirklich geändert. Das liegt an den komplexen Ursachen der Kinderamut. Dazu gehören der Mangel an Infrastruktureinrichtungen, an fehlenden Betreuungsplätzen für Unter-Drei-Jährige, an fehlenden Ganztagsschulen, an der immer noch defizitären Vereinbarkeit von Beruf und Familie, aber auch an der zunehmenden Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen. Wo Vater und Mutter keinen stabilen Arbeitsplatz und kein auskömmliches Einkommen haben, bleibt auch für die Kinder nur die Abhängigkeit vom Job-Center. Familien mit mehreren Kindern, Familien mit Migrationshintergrund und Alleinerziehende erleben das besonders häufig.

In einer älter werdenden Gesellschaft muss die wachsende Zahl von Kindern in „Armutsfamilien“ ein Signal zum sozialpolitischen Umdenken sein.

Dahinter verbirgt sich ein Mangel der deutschen Familienpolitik. Wo Familien aus materiellen, strukturellen oder kulturellen Gründen nicht in der Lage sind, den steigenden gesellschaftlichen Erwartungen an Erziehung, Bildung und Förderung zu entsprechen, haben Kinder das Nachsehen. Denn nicht nur Reichtum und Armut, auch Bildung und Zugangsvoraussetzungen werden in Deutschland nach wie vor in hohem Maße vererbt. Dieses Problem hat sich in den letzten Jahren eher zugespitzt. Daran können weder „Bildungspakete“ noch das „Betreuungsgeld“ etwas ändern. In einer älter werdenden Gesellschaft muss die wachsende Zahl von Kindern in „Armutsfamilien“ ein Signal zur Umkehr und zum grundlegenden sozialpolitischen Umdenken sein. Kinder gehören in die Mitte der Gesellschaft. Das zeigt schon das Beispiel Jesu, der auf die Frage, wer der Größte im Himmelreich sei, ein Kind in die Mitte des Jüngerkreises stellte.

Was sagt es Ihrer Meinung nach über unsere Gesellschaft aus, wenn trotz einer relativ guten Arbeitsmarktsituation noch mehr als jedes siebte Kind auf Hartz IV angewiesen ist?

Coenen-Marx: Unsere westlichen Gesellschaften sind zu Single-Gesellschaften geworden, in denen das Alleinleben der beste Weg ist, die Werte einer individualistischen Gesellschaft zu leben - einer Gesellschaft, in der vor allem Employability, also die "Beschäftigungsfähigkeit" der Menschen, und Flexibilität gefragt sind. Das führt dazu, dass gerade jüngere Paare pendeln, dass Familiengründungen aufgeschoben werden und die Zahl Alleinerziehender steigt. An den attraktiven Standorten ziehen die Mieten an und wer nicht mithalten kann, landet im Abseits. Der Deutschlandvergleich zeigt das wachsende Armutsrisiko in den boomenden Städten wie in den schrumpfenden Regionen. Der Armutsbericht macht deutlich, warum gerade Alleinerziehende und Familien mit vielen Kindern es schwer haben "mitzuhalten".

Viele Mütter arbeiten wegen der schlechten Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Teilzeit. Kein Wunder, dass viele trotz Arbeitsplatz "aufstocken" müssen.

Um von der eigenen Vollzeit-Arbeitsstelle eine Familie versorgen zu können, brauchen eine alleinerziehende Mutter oder ein alleinerziehender Vater mit zwei Kindern einen Stundenlohn von 14,50 Euro. Das liegt weit über dem von Gewerkschaften, zum Teil auch von Kirchen, geforderten Mindestlohns von 8,50 Euro. Die Erwartung, dass ein Einzelner von seinem Lohn eine Familie ernähren können muss, läuft seit langem ins Leere. Viele Mütter arbeiten wegen der schlechten Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Teilzeit. Kein Wunder, dass viele trotz Arbeitsplatz "aufstocken" müssen und so auch Kinder schon sehr früh in eine Spirale von Abhängigkeiten geraten. Wenn wir die Eigenständigkeit von Familien sichern und für die Entwicklungsmöglichkeiten aller Kinder eintreten wollen, müssen wir die bisherigen Leistungen für Kinder in Richtung einer eigenständigen Grundsicherung weiter entwickeln und dafür sorgen, dass Mütter wie Väter Erwerbs- und Sorgearbeit besser vereinbaren können. Dazu gehört eine bessere steuerliche Anerkennung von Sorgezeiten in der Familie – über die Ehegattensplittings hinaus, zum Familiensplitting.

Der DGB hat ein Maßnahmebündel zur Bekämpfung von Kinderarmut vorgeschlagen, das die sozial-, bildungs- und arbeitsmarktpolitische Situation der hilfebedürftigen Haushalte als Ganzes in den Blick nimmt. Können eine Reform des Kinderzuschlags und des Wohngelds sowie ein gesetzlicher Mindestlohn das Armutsrisiko von Haushalten mit Kindern abbauen?

Coenen-Marx: Eine neue Kombination aus Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik im Sinne einer ganzheitlichen Familienpolitik ist notwendig. Dazu gehören ein gesetzlicher, oder jedenfalls ein branchenbezogener, Mindestlohn für alle Branchen genauso wie eine eigenständige Kindergrundsicherung, aber auch die Anerkennung von Sorgearbeit in Pflege und Erziehung in den sozialen Sicherungssystemen und ein durchgängiges Bildungskonzept, das mit einer Qualitätsoffensive für Unter-Drei-Jährige beginnt. Ein Mindestlohn allein, so notwendig er ist, kann das Problem ebenso wenig lösen wie die Verbesserung eines einzelnen familienpolitischen Instruments wie des Kinderzuschlags – so wichtig der besondere Fokus auf Kinder aus Familien mit Armutsrisiko auch ist. Über materielle Unterstützung hinaus, brauchen auch solche Kinder vor allem bessere Bildungs- und Teilhabechancen und ein Wohnumfeld, in dem sie tragende und unterstützende Netze finden können.

Kinder gehören in die Mitte aller sozialpolitischen Maßnahmen in den Wohnquartieren.

Ob eine Reform des Wohngelds oder andere strukturelle wohnungsbaupolitische Maßnahmen nötig sind, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken und eine Ghettoisierung zu vermeiden, muss weiter diskutiert werden. „Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen“, heißt es. Wer das ernst nimmt, weiß: Kinder gehören in die Mitte aller sozialpolitischen Maßnahmen in den Wohnquartieren. Dabei sind auch die Kirchengemeinden mit ihren Tageseinrichtungen, Beratungsstellen und Ehrenamtlichen gefragt – so wie alle Bürgerinnen und Bürger, alle Kolleginnen und Kollegen. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, brauchen einen Mentalitätswandel: Es geht nicht um meine oder deine, sondern um unsere Kinder.


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