Deutscher Gewerkschaftsbund

26.02.2013

Arbeitsmarkt: "Jeder Vierte arbeitet unter unwürdigen Bedingungen"

„Wer die Leiharbeit aus der Schmuddelecke herausholen will, der muss dafür sorgen, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt wird“, sagt DGB-Vorsitzender Michael Sommer. Im Interview mit der Saarbrücker Zeitung warnt er zudem vor faulen Kompromissen beim Mindestlohn und fordert schnelle Schritte gegen den Missbrauch von Werkverträgen.

Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer s/w

Druckfähiges Pressefoto s/w DGB

Saarbrücker Zeitung: Herr Sommer, durch die schlechten Arbeitsbedingungen bei Amazon ist die Leiharbeit erneut ins Zwielicht gerückt. Steht diese Beschäftigungsform jetzt grundsätzlich in Frage?

Michael Sommer: Nein, Leiharbeit ist ein Teil der Flexibilisierung der Arbeitswelt. Allerdings zum Abfangen von Auftragsspitzen und nicht zum Zwecke von Lohndumping. Amazon hat Menschen in schlimmster Manier ausgebeutet.

Wie lässt sich das ändern?

Wer die Leiharbeit aus der Schmuddelecke herausholen will, der muss dafür sorgen, dass nach einer kurzen Einarbeitungszeit gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt wird und die Arbeitsbedingungen zwischen Leiharbeitern und Stammbelegschaft angeglichen sind. Doch die Regierung scheut hier eine gesetzliche Regelung.

Aber die Bundesarbeitsministerin will gegen Rechtsverletzungen bei Amazon hart vorgehen. Das muss Sie doch freuen.

Wenn Ursula von der Leyen jetzt gegen Amazon wettert, dann ist das mehr Populismus als politisches Handeln. Sie tut immer so, als ob sie was tun will. Ein Missbrauch der Leiharbeit lässt sich nur mit einer allgemeinen  gesetzlichen Regelung eindämmen und nicht mit einer Lex Amazon.

In Deutschland gibt es fast 42 Millionen Beschäftigte. Soviel wie noch nie. Ist das nicht auch Erfolg der viel gescholtenen Agenda 2010?

Natürlich freue ich mich über die hohe Beschäftigtenzahl und die niedrige Arbeitslosenquote, wobei hier auch statistische Effekte eine Rolle spielen. Laut Bundesagentur für Arbeit sind rund vier Millionen Menschen unterbeschäftigt. Das Ausmaß der Arbeitslosigkeit ist also deutlich größer, als es die offizielle Quote vermuten lässt. Wahr ist aber auch, dass der hohe Beschäftigungsgrad mit einem Niedriglohnsektor bezahlt wurde, in dem mittlerweile jeder vierte Beschäftigte in Deutschland zumeist unter unwürdigen Bedingungen arbeitet. Dieser Preis ist mir zu hoch.

Im Zweifel nehmen Sie also mehr Arbeitslosigkeit in Kauf als mäßig entlohnte Jobs?

Vollbeschäftigung ist auch jenseits der Geiz-ist-geil-Mentalität möglich. Die arbeitenden Menschen haben ein Recht darauf anständig bezahlt zu werden. Das ist meine feste Überzeugung. In der deutschen Exportwirtschaft werden sehr gute Löhne gezahlt. Zugleich weist diese Branche ein Höchstmaß an Flexibilität auf, die auch die Gewerkschaften mit ermöglicht haben. Das ist doch ein klassischer Beweis dafür, dass es keinen zwingenden Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Arbeitslosigkeit gibt. Sonst müssten bei Daimler oder VW Hungerlöhne gezahlt werden, was aber nicht der Fall ist. Und das ist gut so.

Experten sagen, dass das Problem nicht mehr in der Leiharbeit, sondern in so genannten Werkverträgen besteht. Geht die Diskussion um Amazon womöglich an der Realität vorbei?

Es stimmt, seit Leiharbeit besser reguliert wurde, etwa durch Branchenzuschläge oder den Branchenmindestlohn, suchen Arbeitgeber nach neuen Strategien, um billig im Geschäft zu bleiben. Die Niederlande sind dafür ein Extrembeispiel. Rund jeder fünfte Beschäftigte ist dort ein Werkvertragsarbeiter ohne soziale Absicherung. Das Problem ist also auf dem Vormarsch, wobei es auch viele Werkverträge gibt, die Sinn machen.

Was müsste konkret geschehen?

Werkverträge werden dann missbräuchlich genutzt, wenn der Werkarbeiter seinen Auftrag nicht selbständig erledigt, sondern in den Arbeitsablauf des vermeintlichen Auftraggebers fest integriert ist, und zum Beispiel Werkzeug des Auftraggebers in dessen Räumlichkeiten benutzt. Es darf nicht dazu kommen, dass das Kind wie bei der Leiharbeit erst in den Brunnen fallen muss, bevor die Regierung handelt. Je schneller sie den Missbrauch von Werkverträgen bekämpft, umso besser. Das Beste wäre eine Regelung noch vor der Bundestagswahl.

Immerhin deutet sich bei Schwarz-Gelb ein Sinneswandel beim Mindestlohn an. Glauben Sie, dass die FDP hier einlenkt?

Ich habe den Verdacht, dass das etwas fürs politische Schaufenster ist. Auf der anderen Seite weiß die Bundeskanzlerin, dass die große Mehrheit der Bevölkerung einen Mindestlohn will und sie dem Druck nicht ausweichen kann. Zum Schwur wird es bei der SPD-Initiative im Bundesrat kommen. Der Vorschlag ist eine klare Ansage: ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro und danach weitere Anpassungen durch eine Kommission der Tarifpartner. Das ist sehr vernünftig und eigentlich auch der Versuch eines Kompromisses zwischen der SPD-Forderung und den Vorstellungen der Union.

Sie sind also optimistisch?

Wie gesagt, ich bleibe misstrauisch. Eines darf nicht passieren: Nämlich, dass die 8,50 Euro durch einen faulen Kompromiss unterlaufen werden können. 8,50 Euro flächendeckend, gesetzlich festgelegt, dass ist der Mindeststandard. Ansonsten wäre der Mindestlohn ein Etikettenschwindel.

Stefan Vetter, Saarbrücker Zeitung, 23.02.2013


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