Deutscher Gewerkschaftsbund

23.06.2016
Reformbedarf

Arbeitsschutz braucht Beteiligung

einblick 11/2016

Arbeit 4.0 stellt neue Herausforderungen an den Arbeits- und Gesundheitsschutz. Worauf es künftig ankommt, beschreibt Birgit Kraemer, Expertin im WSI der Hans-Böckler-Stiftung.

Frau klebt Karton an Fließband in Lagerhalle zu

Colourbox

Zwanzig Jahre ist das Arbeitsschutzgesetz in diesem Jahr alt geworden – ein gebotener Anlass, um nach vorne zu denken. Der Wandel der Arbeitswelt und neue Formen der Arbeitsorganisation bringen neue gesundheitliche Risiken. Aufgabe ist es, im Arbeits- und Gesundheitsschutz aktiv gegenzusteuern. Doch Arbeitsschutz ist kein Thema, das Emotionen hervorruft und Gewerkschaften auf die Straße treibt. Den Betriebsräten bleibt oft zu wenig Zeit für Arbeitssicherheit und Gefährdungsbeurteilungen. Dabei brauchen wir dringend mehr Aufmerksamkeit und neue Formen der Beteiligung, damit sich Beschäftigte aktiv am Arbeits- und Gesundheitsschutz beteiligen können. Es besteht die Gefahr, dass die Ungleichheit von Beschäftigten auch hinsichtlich der Sicherheit am Arbeitsplatz zunimmt.

Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit sind auch heute nicht selbstverständlich. Und zunehmend wird der Arbeitnehmerschutz als überflüssiger Kostenfaktor gesehen. Der Blick nach Brüssel zeigt dies deutlich: Gingen in den 1980er und 1990er Jahren noch viele positive Impulse für den Arbeitnehmerschutz von der EU-Ebene aus, wurden zuletzt immer häufiger Wirtschaftsinteressen berücksichtigt. Zwar erließ die EU-Kommission vor kurzem eine Richtlinie zum Schutz vor krebserzeugenden Stoffen. Ebenso überprüfen die Mitgliedstaaten aber auch derzeit, inwieweit die Umsetzung der EU-Arbeitsschutzrichtlinie „unnötigen bürokratischen Aufwand“ für Unternehmen schafft. Vorsicht ist geboten.

„Wir brauchen dringend mehr
Aufmerksamkeit und neue
Formen der Beteiligung, damit
sich Beschäftigte aktiv am
Arbeits- und Gesundheitsschutz
beteiligen können.“

Nach der Richtlinie sollen die Mitgliedstaaten durch entsprechende Aufsichtsbehörden die Sicherheit am Arbeitsplatz gewährleisten. Die ILO empfiehlt einen Inspektor pro 10 000 Beschäftigte. Doch seit 2008 wurden infolge des Spardiktats in fast allen EU-Staaten massiv Stellen abgebaut. Wo Kontrolle kaum noch existiert, gibt es auch keine Abschreckung. Es fehlt auch an Öffentlichkeit: Die europäische Statistikbehörde Eurostat berichtet seit 2012 nicht mehr über die Zahl der Arbeitsunfälle. Nun steigen sie, wenig überraschend, in etlichen Ländern wieder an.

In Deutschland scheint die Lage nur vordergründig besser. Zwar arbeiten Aufsichtsbehörden sowie Kranken- und Unfallversicherungen gemeinsam an einer betrieblichen Präventionskultur, doch Schuldenbremse und Restrukturierungen im öffentlichen Dienst haben die Stellen in den Aufsichtsbehörden dezimiert. Von der Empfehlung der ILO ist auch Deutschland weit entfernt. Vonseiten der Politik ist derzeit nicht mit mehr Geld und Unterstützung zu rechnen. Die Aktivitäten der Kranken- und Unfallversicherungen und die betriebliche Gesundheitsförderung sind kein Ersatz. Laut dem Präventionsbericht der Gesetzlichen Krankenversicherung profitieren zudem vor allem mittlere und höhere Führungskräfte von betrieblicher Gesundheitsförderung.

Inspektion und Kontrolle wurden auch hierzulande zugunsten von Freiwilligkeit, Überzeugungsarbeit und Sensibilisierung abgebaut. Eine entscheidende Stütze dieser Strategie ist eine betriebliche Arbeitnehmervertretung, die vor Ort in den Arbeitsschutz eingebunden ist. Doch in immer weniger Unternehmen existieren Betriebsräte. Und in rund einem Viertel aller Betriebe gibt es keine Kenntnisse über Arbeitsschutzvorschriften, knapp die Hälfte aller Betriebe führen keine Gefährdungsbeurteilungen durch.

Eine gesunde Belegschaft ist eine fundamentale Voraussetzung für die Produktivität eines Unternehmens – diese Erkenntnis ist weit verbreitet. In Zeiten von Befristungen, Leiharbeit, Werkverträgen, Verlagerungen und Vergabe von Aufträgen über Online-Plattformen fällt der Arbeitsschutz als Kosten- und Zeitfaktor ins Gewicht. Die Sorge um die Gesundheit der Belegschaft bezieht sich auf die Absicherung der Stammkräfte. Was heißt dies angesichts der neuen Herausforderungen, die sich durch die Veränderungen der Arbeitsorganisation und durch die Veränderungen der Beschäftigungsverhältnisse abzeichnen? Wie kann die Sicherheit und Gesundheit von mobilen Beschäftigten, von Soloselbstständigen, von Leiharbeitskräften, ArbeitnehmerInnen mit geringen Deutschkenntnissen oder entsandten Beschäftigten sichergestellt werden?

Erste Antworten auf diese Fragen wurden auf der WSI-Arbeitsschutzkonferenz Ende Juni entwickelt. So könnten regionale Kooperationen zwischen Aufsichtsbehörden, Gewerkschaften und interessierten Organisationen – wie Beratungsstellen für entsandte Beschäftigte – den Informationsaustauch gewährleisten und die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema erhöhen. Notwendig sind aber auch mehr und neue Formen der Beteiligung von Beschäftigten. Deutschland hat zwar die Europäische Arbeitsschutzrichtlinie in deutsches Recht umgesetzt, aber die Möglichkeiten zur Partizipation der Beschäftigten sind bislang keineswegs ausgeschöpft. In Schweden und England gibt es beispielsweise direkt gewählte ‚worker safety representatives‘, die erfolgreich tätig sind. Arbeitsschutz ist auf alle Fälle ein Gestaltungsfeld, das mehr Beteiligung und aktive Auseinandersetzung braucht.


Birgit Kraemer ist seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und arbeitet eng mit der EU-Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in Dublin zusammen.


Erschienen in: einblick 13/2016 vom 22. August 2016


Nach oben