Deutscher Gewerkschaftsbund

29.07.2010

Arbeitsmarkt: Bund verschärft Lage der Langzeitarbeitslosen

Vom Arbeitsmarkt kommen derzeit viele scheinbar gute Nachrichten: Die Zahl der Erwerbslosen ist deutlich niedriger als erwartet. Doch im freundlichen Bild fehlt ein wesentlicher Punkt: Für Langzeitarbeitslose hat sich die Situation zuletzt nicht verbessert, sondern verschlechtert.

Von Wilhelm Adamy

Vom Arbeitsmarkt kommen in den diesen Tagen viele scheinbar gute Nachrichten: Die Zahl der Erwerbslosen ist deutlich niedriger als noch zur Jahreswende erwartet. Der schlimmste Teil der Wirtschaftskrise scheint dank Kurzarbeit und flexibler Arbeitszeitmodelle gut überstanden. Haben die Hartz-Reformen - wie so häufig behauptet - das avisierte Ziel erreicht, die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit zu verkürzen? Funktioniert die Arbeitsmarktpolitik also insgesamt ganz gut?

Im freundlichen Bild fehlt ein wesentlicher Punkt: Für Langzeitarbeitslose hat sich die Situation zuletzt nicht verbessert, sondern verschlechtert. Im Jahr 2009 sank die Zahl derer, die von der Langzeitarbeitslosigkeit in reguläre Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt wechselten, erstmals wieder unter das Niveau vor der Einführung von Hartz IV. Weder die gute Konjunktur der vergangenen Jahre noch die Hartz-Reformen haben die Beschäftigungschancen von Langzeitarbeitslosen nachhaltig verbessern können.

Ohnehin sind die Aussichten, einen sozialversicherungspflichtigen Job zu finden, geringer als in den meisten anderen Industrieländern. Das Sparpaket der Bundesregierung wird sich diese Chancen aller Voraussicht nach noch weiter verringern.

2009 gab es im Schnitt 933 000 Langzeitarbeitslose. Gegenläufig zur Entwicklung der Erwerbslosen insgesamt wurden im Juni 2010 etwa 27 000 mehr Langzeitarbeitslose gezählt als ein Jahr zuvor. Ihr Anteil an den Arbeitslosen erhöhte sich um zwei Prozentpunkte auf gut 30 Prozent.

Die betrieblichen Auswahlprozesse bei Einstellungen wie Entlassungen verschärfen sich und führen zu einer ungleichen Verteilung der Beschäftigungschancen und -risiken. Wer in der Leistungskonkurrenz unterliegt, wird schnell zum Langzeitarbeitslosen. Längerfristige Arbeitslosigkeit selbst wiederum wirkt als zusätzliches Risiko – sie kann wie Haft wirken, isolieren, entmutigen und demoralisieren. 45 Prozent der arbeitslosen Hartz IV-Empfänger haben nach eigener Einschätzung bereits gesundheitliche Einschränkungen. Dieser Anteil ist nahezu doppelt so hoch wie bei der gleichaltrigen Bevölkerung insgesamt.

Im Krisenjahr 2009 konnten im Schnitt pro Monat nur knapp drei Prozent der Langzeitarbeitslosen eine Beschäftigung auf dem ersten oder zweiten Arbeitsmarkt finden. Das ist umso bedenklicher, als die amtliche Statistik ohnehin nur einen Teil der sich verfestigenden Arbeitslosigkeit zeigt. Auch wer beispielsweise Langzeitarbeitslosigkeit durch längere Erkrankung unterbricht zählt anschließend statistisch nicht mehr als langzeitarbeitslos sondern als Neuzugang.

2009 waren 45,5 Prozent der Erwerbslosen zwischen 15 und 64 Jahren in Deutschland länger als ein Jahr ohne Arbeit. Dies sind immerhin zehn Prozentpunkte mehr als im Schnitt der 16 Länder der Eurozone. Gemessen an diesen Kriterien liegt der Anteil der Langzeitarbeitslosen bei uns immer noch leicht über dem Niveau von 1994, nämlich 44,3 Prozent.
Trotz aller Schwierigkeiten können Langzeitarbeitslose einen Job finden, wenn Wiedereingliederungshilfen zur Verfügung stehen. Erfolgreich ist dies insbesondere dann, wenn diese Hilfen frühzeitig einsetzen, individuell auf die Situation der Betroffenen ausgerichtet sind, mit sozialen und arbeitsmarktpolitischen Hilfen verknüpft werden und längerfristige Perspektiven eröffnen. Je länger Arbeitslosigkeit dauert, desto schwieriger und teurer wird die Wiedereingliederung.

Eine Arbeitsmarktpolitik nach dem Motto »schnell und billig« schafft weder zusätzliche Beschäftigung noch nachhaltige Integration. Doch kurzfristige Trainingsmaßnahmen und Ein-Euro-Jobs sind die wichtigsten Fördermaßnahmen für Hartz IV-Empfänger. So üben im Schnitt knapp 300 000 Menschen Ein-Euro Jobs aus, bei denen ergänzend zum Existenzminimum eine geringe »Mehraufwandsentschädigung« gezahlt wird. Da diese Maßnahmen meist nicht länger als sechs Monate dauern, durchlaufen innerhalb eines Jahres mehr als doppelt so viele Menschen diese Tätigkeiten.

Diese scheinbar billigen, nicht sozialversicherungspflichtigen Jobs haben im Hartz-IV-System eine weit größere Bedeutung als Qualifizierungsmaßnahmen. So sind im Schnitt dreimal mehr Langzeitarbeitslose in Arbeitsgelegenheiten als in Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung. Dabei ist Weiterbildung bei Langzeitarbeitslosen besonders dringlich. Bundesweit hat immerhin jeder zweite Langzeitarbeitslose keinen Berufsabschluss.

Dem vom Gesetz geforderten Nachrang der 1-Euro-Jobs wird bisher in der Praxis nicht Rechnung getragen. Die Bedeutung dieser Arbeitsgelegenheiten zeigt sich auch darin, dass acht- bis neunmal mehr Arbeitslose in Ein-Euro-Jobs eintreten als in sozialversicherte Jobs auf dem zweiten Arbeitsmarkt. Dabei sind die Eingliederungschancen bei Ein-Euro-Jobs schlechter als bei jedem anderen Förderinstrument.

Gestrichen wurde dafür bei sozialversicherter öffentlich geförderter Beschäftigung. Zwar hat die Bundesregierung jetzt ein Projekt „Bürgerarbeit“ aufgelegt. Doch damit können die bereits eingeschränkten oder ganz gestrichenen Maßnahmen keinesfalls kompensiert werden. So wurde der erst 2007 gezielt für besonders gehandicapte Hartz IV-Empfänger geschaffene Beschäftigungszuschuss finanziell „gedeckelt“. Die Eintritte liegen seit Jahresanfang um zwei Drittel unter dem Vorjahresniveau.

Die von der Bundesregierung beschlossene neue Sparliste sieht für den Arbeitsmarkt weitergehende Einschnitte von allein 4,4 Milliarden Euro in 2011 vor; bis 2014 soll sich diese Summe auf 10,4 Milliarden Euro erhöhen. In der Arbeitsförderung sollen allein im kommenden Jahr zwei Milliarden Euro gekürzt werden. Fördern wird dann noch kleiner und Fordern größer geschrieben.

Langzeitarbeitslosigkeit kann noch weniger verhindert und bereits eingetretene Langzeitarbeitslosigkeit noch weniger bekämpft werden. Sollten diese Pläne umgesetzt werden, ist auch die Stabilisierung der Konjunktur gefährdet. Langzeitarbeitslosigkeit und Armut würden weiter zuzunehmen. Das wären gesellschaftliche Veränderungen, die womöglich schwerer wiegen als alle kurzfristig erzielten Einspareffekte.

 

Wilhelm Adamy leitet beim DGB-Bundesvorstand die Abteilung Arbeitsmarktpolitik.

Der Beitrag ist ursprünglich erschienen in der Wochenzeitung Die Zeit vom 29.07.2010


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