Deutscher Gewerkschaftsbund

14.11.2018

Das Unglück von Genua – Wendepunkt für die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur?

Am 14. August 2018 stürzte die Morandi-Autobahnbrücke bei Genua ein. 43 Menschen starben. Schnell entspann sich ein Streit über Ursachen und Versäumnisse, die zu dieser Katastrophe geführt hatten. Wurde alles getan, um die Sicherheit zu gewährleisten? Die öffentliche Debatte um mögliche Verstaatlichung bzw. eine Überprüfung der Konzession wurde relativ schnell beendet. Dabei ist es sehr wohl im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, wie das Geschäftsgebaren eines Unternehmens einzuschätzen ist, das für einen immer größeren Teil der öffentlichen Infrastruktur die Verantwortung trägt. Das Unglück von Genua führt hoffentlich zu einem Wendepunkt bei Privatisierung von Finanzierung, Bau und Betrieb öffentlicher Infrastruktur.

Schlagloch, Warnhinweis

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Profite auf Kosten der Substanz

Der Vorwurf gegen den Brückenbetreiber Atlantia lautet, massiv bei der Erhaltung gespart zu haben. Gleichzeitig wurde von 2012 bis 2016 insgesamt 6,3 Mrd. Euro Gewinn erzielt. Die Aktionärinnen und Aktionäre kassierten im gleichen Zeitraum Dividenden in Höhe von 1,5 Mrd. Euro. Atlantia bestreitet, das Bauwerk unzureichend überwacht zu haben.

Die Bilanz bietet Angriffsflächen: 2017 betrug der Umsatz von Atlantia fast 6 Mrd. Euro, davon kamen 4,2 Mrd. Euro aus Autobahngebühren. Der operative Gewinn lag bei 2,6 Mrd. Euro oder 43% des Umsatzes. Als Nettogewinn wurden 200 Mio. Euro mehr ausgewiesen als im Jahr zuvor. Die „operativen Investitionen“ sind hingegen 2017 um rund 400 Mio. Euro auf 1,05 Mrd. Euro geschrumpft.

Rückblick: Die Privatisierung der Autobahngesellschaft Autostrade wurde 1999 durch die Prodi-Regierung beschlossen. Der Staat blieb zwar Eigentümer des Autobahnnetzes, Verwaltung und Erhalt wurden jedoch an die Atlantia (vormals Autostrade per l’Italia, kontrolliert von der Bekleidungsdynastie Benetton) ausgelagert. Atlantia hält u.a. Autobahnen in Brasilien, Indien, Chile und Polen und verdient mit Autobahnraststätten. Der Expansionskurs wird vor allem aus den steigenden Mauteinnahmen finanziert. So traten zu Beginn 2018 wieder empfindliche Mauterhöhungen in Kraft, besonders kräftig fiel sie bei dem Betreiber RAV S.p.A. (A5 zwischen Aosta und dem Mont Blanc) mit 52,69% aus.

Privatmonopol ohne Pflichtenprüfung

2008 wurden den Autobahnkonzessionären von der Koalition Forza Italia/Lega neue Spielräume bei der Erhöhung der Mautgebühren eingeräumt, ohne dass sie – wie davor vorgesehen – nachweisen mussten, welchen Anteil davon sie in Erhalt und Verbesserung der Infrastruktur steckten. Der Staat verzichtete also weitgehend darauf, Einfluss auf die Mauthöhe und die Qualitätskontrolle zu nehmen. Das öffentliche Monopol wurde so in ein privates Monopol umgewandelt. Der Verkehr nahm zu, die Mauteinnahmen sprudelten, doch die Investitionen sind laut Medienberichten zwischen 2008 und 2015 um 20% gesunken. Trotzdem wurde 2015 ein Gesetz verabschiedet, das die Konzession ohne erneute Ausschreibung bis 2038 verlängerte.

Sollte die Konzession – wie von der italienischen Regierung beabsichtigt – wegen nicht eingehaltener Verpflichtungen entzogen werden, müssten Atlantia dafür schwerwiegende Versäumnisse nachgewiesen werden. Für Steuerzahlerinnen und Steuerzahler könnte die Auflösung des Vertrages sehr teuer werden. Der Staat müsste das Unternehmen nach Schätzung von BranchenexpertInnen mit 15 bis 20 Mrd. Euro entschädigen. War die erste Reaktion des italienischen Vize-Premiers di Maio (Cinque Stelle bzw. „5 Sterne-Partei“): „Wir müssen aus der Logik des reinen Profits herauskommen, wir werden Mautgebühren senken“, ist mit der Ablehnung der Idee der Verstaatlichung durch Vize-Premier Salvini (Lega Nord) die Idee vom Tisch gewischt. Zukünftig soll Deutschlands Modell der Verkehrsinfrastrukturentwicklung als Vorbild gelten.

Deutschland als (schlechtes) Vorbild

Trotz unzähliger Berichte der Landesrechnungshöfe, des Bundesrechnungshofes und zuletzt des Europäischen Rechnungshofes setzt das CSU-geführte Verkehrsministerium unbeirrt auf Öffentlich-Private Partnerschaften (ÖPP). Daran konnte auch die Klage der A1 mobil GmbH, Betreiberin der einstigen Vorzeige-ÖPP A1 Bremen-Hamburg, nichts ändern. Sie hatte den Bund wegen Unwirtschaftlichkeit des Projektes auf 778 Millionen Euro Nachzahlung – u.a. für Einnahmeausfälle durch die Finanzkrise – verklagt. Ein rechtsgültiges Urteil gibt es noch nicht, aber was hieße das für eine Politik der Verkehrsverlagerung von Gütertransporten auf Wasser- und Schienenwege, wie im Koalitionsvertrag verabredet? Würde eine klimafreundlichere Verkehrspolitik für Straßen-ÖPP die Option eröffnen, auf Schadenersatz wegen sinkender Mauteinnahmen zu klagen?

Ein weiteres Beispiel ist das in Deutschland von CSU und CDU geplante Vorhaben, Infrastrukturprojekte in einer großen, zentralen Straßenbaugesellschaft zusammenzufassen und über ÖPP zu teilprivatisieren. Der DGB hat sich in der Debatte um die sogenannte „Bundesfernstraßengesellschaft“ für mehrere Privatisierungsbremsen eingesetzt. So soll sichergestellt werden, dass der staatliche Einfluss auf die Entwicklung der öffentlichen Infrastruktur erhalten bleibt.

Daseinsvorsorge unverträglich mit Öffentlich Privaten Partnerschaften

ÖPPs sind für die Allgemeinheit meist teurer, intransparent und stellen über ihre – in der Regel jahrzehntelange – Bindung eine schleichende Kapitalprivatisierung öffentlicher Infrastruktur dar. Mit Aufgabe der staatlichen Betreiberschaft unterliegen alle wirtschaftspolitischen Entscheidungen dem europäischen Wettbewerbsrecht, das vom Gedanken der möglichen Wettbewerbsverzerrung und nicht von der Frage der Preisangemessenheit und qualitätsvollen Dienstleistung für alle ausgeht. Der staatliche Gestaltungsspielraum wird dadurch deutlich eingeschränkt.

In jedem Fall muss eine Projektvergabe an ÖPP vorab einer externen Wirtschaftlichkeitsprüfung unterzogen werden. Die öffentliche Hand hat zudem Kontrollpflichten. Bei ÖPP müssen von der Bauausführung bis zum Betrieb tarifliche und soziale Standards eingehalten werden. Dies gilt auch für die Untervergabe von Aufträgen. Wie immer die komplexen Vertragswerke gestaltet sein mögen: Bei Infrastrukturprojekten, wie Straßen, Schienen, Brücken, Flughäfen, Krankenhäusern, Gefängnissen etc., wird der Privatinvestor auch in Zukunft risikofrei gestellt sein. Denn für den Verlustausgleich haften die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler und bei Konkurs sind sie in Geiselhaft. Der zumeist noch garantierte Gewinn aber geht an das Privatunternehmen und seine Eigentümerinnen und Eigentümer – ein Geschäftsmodell also ohne Risiko für den Privatinvestor. ÖPP sind im Bereich der Daseinsvorsorge grundsätzlich abzulehnen. Auf europäischer Ebene bedarf es einer klaren Ausnahme vom EU-Wettbewerbsrecht für staatliche Infrastruktur und öffentliche Daseinsvorsorge.

Martin Stuber, DGB-BVV


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