Vor 100 Jahren wurde mit dem Stinnes-Legien-Abkommen die Sozialpartnerschaft zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern beschlossen. Seitdem werden die Arbeitsbedingungen über Tarifverträge geregelt. Doch in den letzten Jahren ging die Zahl der Tarifverträge immer weiter zurück. Das muss sich ändern, fordert der DGB-klartext.
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Wenn Gewerkschaften und Arbeitgeber in diesen Tagen 100 Jahre Sozialpartnerschaft feiern, dann scheint ab und an auch ein wenig Erleichterung in der Luft zu liegen, darüber, dass man es so lange miteinander ausgehalten hat. Schon das Abkommen vor 100 Jahren zwischen dem Industriellen Hugo Stinnes und dem Gewerkschafter Carl Legien war alles andere als eine Liebeserklärung, sondern ein Zweckbündnis, welches beiden Seiten Vorteile brachte. Die Unternehmen entgingen in den Wirren der Novemberrevolution 1918 der Verstaatlichung und Gewerkschaften wurden das erste Mal anerkannt und konnten seit diesem Zeitpunkt die Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder kollektivrechtlich über Tarifverträge regeln.
100 Jahre danach scheint dieses Zweckbündnis reformbedürftig. Ganze 73 Prozent der Betriebe waren 2017 ohne Tarifvertrag. Lediglich 47 Prozent der Beschäftigten fielen noch unter den Schutz solcher kollektivrechtlicher Vereinbarungen. Wenn innerhalb von 10 Jahren die Tarifbindung der Unternehmen um knapp 30 Prozent auf derzeit 25 Prozent sinkt, dann steht damit für beide Seiten viel auf dem Spiel. Es geht um Akzeptanz, um Durchsetzungsfähigkeit und nicht zuletzt um einen gemeinsamen Gestaltungswillen. In der deutschen institutionellen Struktur entscheiden zuallererst Arbeitgeber und Gewerkschaften und nicht der Staat über die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen. Tarifbindung ist damit Gradmesser für eine funktionierende Tarifautonomie.
Dementsprechend einig sind sich die Sozialpartner bei der Frage, ob die Tarifbindung wieder erhöht werden soll. Die Frage des „Wie“ wird indes auch 100 Jahre nach Stinnes und Legien unterschiedlich beantwortet. Für Arbeitgeberpräsident Kramer liegt der Schlüssel zur Stärkung der Tarifautonomie in der Flexibilisierung der Tarifpolitik. So fordert er unter anderem den stärkeren Einsatz von Öffnungsklauseln, die Modularisierung von Tarifverträgen oder die direkte Verhandlung über Tarife zwischen Betriebsräten und Arbeitgebern ohne den Schutz und die Unterstützung der Gewerkschaft.
Aus gewerkschaftlicher Sicht beinhalten diese Forderungen wenig Neues und offenbaren eine gewisse Ideenlosigkeit. Nicht nur das sie das Tarifsystem weiter durchlöchern würden, dem Ansatz durch weniger Tarifbindung, mehr Tarifbindung zu erreichen, fehlt einfach die innere Logik. Besser wäre es, Allgemeinverbindlicherklärungen sowie die Nachwirkung von Tarifverträgen zu erleichtern.
Außerdem könnte die Tarifbindung auch durch geeignete Steuerpolitik erhöht werden. So könnten Gewerkschaftsmitglieder, deren Betriebe tarifgebunden sind, einen neuen Steuerfreibetrag erhalten oder ihren Mitgliedsbeitrag zukünftig vollständig als Werbungskosten absetzen. Die aktuellen Verhandlungen in einigen Bundesländern über Tariftreueregelungen bei öffentlicher Auftragsvergabe geben indes einigen Grund zum Optimismus. Auch für den Bund hat Arbeitsminister Heil jüngst solche Regelungen in Aussicht gestellt.
Die Diskussion um die Steigerung der Tarifbindung ist eine entscheidende Gerechtigkeitsfrage der heutigen Zeit. An ihr hängt nicht nur die Durchsetzungsfähigkeit der Sozialpartner, sondern auch der Fortbestand der sozialen Ordnung wie wir sie kennen. Man kann nur hoffen, dass dies allen Beteiligten bewusst ist.