Deutscher Gewerkschaftsbund

21.11.2013
Arbeitsmarkt auf den Punkt gebracht 5/2013

Atypische und prekäre Beschäftigung weiterhin auf hohem Niveau

„Rekord bei der Beschäftigung“ und „mehr reguläre Jobs“, so lauten aktuelle Schlagzeilen zum Arbeitsmarkt. Die Arbeitgeberverbände kommen gar zu der Einschätzung, die Zahl der so genannten Normalarbeitsplätze nehme seit 2006 stetig zu. Ein genauer Blick zeigt jedoch: den Wandel der Arbeitswelt begleitet ein schleichender Bedeutungsverlust des Normalarbeitsverhältnisses.

1. Entwicklung von Erwerbstätigkeit und Arbeitsvolumen

Die Bundesregierung und wirtschaftsnahe Institutionen verweisen allzu gerne auf die Erwerbstätigkeit, die in den letzten Jahren immer wieder neue Rekordmarken erreichten und bis Mitte 2013 auf fast 41,8 Millionen erwerbstätige Menschen gestiegen ist. Massiv angestiegen ist die Zahl der erwerbstätigen Menschen, insbesondere seit Mitte des letzten Jahrzehnts und zwar um rd. 2,5 Millionen. Doch diese Entwicklung wird schnell einseitig interpretiert und Erwerbstätigkeit gerne mit (sozialversicherter) Beschäftigung gleichgesetzt. Dabei zählt auch die steigende Zahl von Minijobs, Selbständige (inkl. Scheinselbständige) und Ein-Euro-Jobber oder Ältere in der Freistellungsphase der Altersteilzeit zu den Erwerbstätigen. Als erwerbstätig zählt jede/r ab 15 Jahren, der/die in einem einwöchigen Zeitraum mindestens eine Stunde lang gegen Entgelt gearbeitet hat oder selbständig war. Allein 4,9 Millionen Erwerbstätige üben ausschließlich einen Minijob aus; gegenüber 1999 hat sich ihre Zahl um ein Drittel bzw. 1,2 Millionen erhöht. Selbst Erwerbstätige über 65 Jahre werden noch mitgezählt, die sich zu ihrer Altersrente noch etwas hinzuverdienen wollen und müssen.

Berücksichtigt man die geleistete Arbeitszeit, so relativiert sich der Nachkriegsrekord auf dem Arbeitsmarkt deutlich. Von allen Erwerbstätigen wurden in 2012 knapp 58 Milliarden Arbeitsstunden geleistet (inkl. Selbständige und Mithelfende).

Entwicklung von gesamtwirtschaftlicher Erwerbstätigkeit und Arbeitsvolumen

Quelle: DGB-Berechnungen nach BA-Statistik. DGB

Dieses Arbeitsvolumen ist zwar im Vergleich zum Tiefpunkt der Jahre 2003 bis 2006 insgesamt um rd. 2 Milliarden Stunden gestiegen; gegenüber 1991 und 1992 ist das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen hingegen immer noch um rd. 2 Milliarden Stunden gesunken. Zwar sind heute deutlich mehr Menschen erwerbstätig (inkl. Kleinstarbeitsverhältnisse), doch ein gestiegenes Sozialprodukt wird mit einem niedrigeren Arbeitsvolumen erwirtschaftet als 20 Jahre zuvor. Produktivitätsfortschritt und Strukturwandel begünstigen diese Entwicklung.

2. Beschäftigungsentwicklung

Die (sozialversicherte) Beschäftigung bleibt weit hinter dem Zuwachs der Erwerbstätigkeit zurück. Absolut wurden Mitte 2013 rd. 29,2 Millionen sozialversicherte Beschäftigte gezählt, fast ebenso viele wie zuletzt Anfang der 90er Jahre. Dabei hat in den letzten 20 Jahren die sozialversicherte Teilzeit kontinuierlich zugenommen, während die Zahl der Vollzeitplätze rückläufig war. So haben sich die Teilzeitjobs mehr als verdoppelt, während etwa drei Millionen Vollzeitjobs in diesem Zeitraum per Saldo verloren gingen. Nach den vorläufigen Ergebnissen der Beschäftigungsstatistik wurden Mitte 2013 knapp 22 Millionen sozialversicherte Vollzeitbeschäftigte gezählt gegenüber gut 25 Millionen vor 20 Jahren.

Die Beschäftigungszunahme im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende lag weitgehend im Bereich von sozialversicherungspflichtiger Teilzeit, von Minijobs und auch Leiharbeitsverhältnissen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse steigt erst wieder in jüngerer Vergangenheit.

Grafik: Anteil der sozialversicherten Vollzeitbeschäftigten an allen Erwerbstätigen

Quelle: eigene Berechnungen nach der Beschäftigtenstatistik der BA; Juni 2013 DGB

Gemessen an der Entwicklung der Erwerbstätigkeit ist das Gewicht der sozialversicherten Beschäftigung erkennbar zurückgegangen, auch wenn diese Jobs wesentliche Finanzierungsbasis für die Sozialversicherungssysteme sind. Aktuell üben lediglich 69,5 Prozent aller Erwerbsfähigen noch eine sozialversicherte Beschäftigung aus, gegenüber 76,8 Prozent vor 20 Jahren. Einen sozialversicherten Vollzeitjob übt nur noch gut die Hälfte aller Erwerbstätigen aus, gegenüber einem Anteil von gut zwei Dritteln 20 Jahre zuvor. Berücksichtigt man neben den sozialversichert Beschäftigten auch Beamte, so ist der Rückgang der Vollzeitjobs für alle beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer noch stärker. Die Zahl der vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer lag 2012 insgesamt um vier Mio. niedriger als noch vor 20 Jahren. Der Wandel in der Arbeitswelt geht bisher mit einem schleichenden Bedeutungsverlust der Vollzeitplätze einher.

3. Entwicklung atypische und prekäre Beschäftigung

Die Zahl der atypisch Beschäftigten ist nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes 2012 leicht auf 7,89 Millionen Personen gesunken und die Zahl der Beschäftigten in Normalarbeitsverhältnissen gestiegen. Nahezu kontinuierlich hat sich der Anteil atypisch Beschäftigter von 12,8 Prozent in 1991 auf 22,6 Prozent in 2007 erhöht. Seitdem pendelt der Anteil leicht um diesen Wert und ging 2012 erstmals auf 21,8 Prozent zurück. Absolut hat sich die Zahl der atypisch Beschäftigten in den letzten 20 Jahren um gut 3,3 Millionen erhöht, gegenüber einem Anstieg der Erwerbstätigkeit insgesamt um 3,6 Millionen.

Zu den atypisch Beschäftigten zählt das Statistische Bundesamt geringfügig Beschäftigte und Leiharbeitskräfte, befristet Beschäftigte und Teilzeitkräfte mit bis zu 20 Wochenstunden. Der Anstieg der Erwerbstätigkeit in den letzten 20 Jahren geht zu mehr als 80 Prozent auf den Anstieg atypischer Beschäftigung zurück. Die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse reduzierte sich demgegenüber in den letzten zwei Jahrzehnten um gut zwei Millionen.

Anteil der atypisch Beschäftigten an allen Erwerbstätigen  1991 – 2012 in Prozent

Quelle: DGB-Berechnungen nach: Destatis, Statistisches Bundesamt DGB

Bei der Entwicklung der „Normalarbeitsverhältnisse“ ist zu berücksichtigen, dass Beschäftigungsverhältnisse von 20 und mehr Stunden die Woche schon zur „Normalarbeit“ gezählt werden und dies keinesfalls mit Vollzeitbeschäftigung gleichgesetzt werden darf. Andererseits wird die atypische Beschäftigung zu niedrig ausgewiesen, weil die ausschließlich geringfügige Beschäftigung im Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes untererfasst wird. So wurden in den Erhebungen des Statistischen Bundesamtes für 2012 lediglich 2.548 Millionen ausschließlich geringfügige Beschäftigte ausgewiesen, während in der Beschäftigungsstatistik der BA tatsächlich 4,8 Mio. gezählt wurden. Das sind gut eine Million mehr als im Mikrozensus, der auf Befragungen basiert.

Berücksichtigt man dies, zeigt sich ein langfristiger Wandel hin zu atypischen Erwerbsformen. Dies ist ein langfristiger Trend, wobei von einer grundlegenden Kursänderung noch nicht gesprochen werden kann. Ebenso wenig ist erkennbar, dass sich die Qualität der Arbeit verbessert hat. Zwar ist nicht jede atypische Beschäftigung auch prekär und so kann z. B. (sozialversicherte) Teilzeit auch von Beschäftigten teils angestrebt werden, um Arbeit und Familie bzw. private Interessen möglichst in Einklang bringen zu können. Andererseits können teils auch Beschäftigte in „Normalarbeitsverhältnissen“ durchaus einen prekären Job haben. Prekär sind generell jene Jobs, die sehr schlecht entlohnt werden, wenig sozial- und arbeitsrechtlichen Schutz haben sowie ein hohes Arbeitsmarkt- und gesundheitliches Risiko haben.

Erste Hinweise hierfür liefern die deutlichen Zuwächse bei denen Beschäftigten, die einen Zweitjob ausüben. So gibt es 2,6 Millionen Menschen, die im Nebenjob geringfügig beschäftigt sind. Hinzu kommen jene, die zwei sozialversicherte Jobs ausüben, um über die Runden zu kommen; beides wird vom Statistischen Bundesamt bei der Entwicklung der Erwerbstätigkeit nicht einbezogen, ebenso wenig wie die Niedriglohnentwicklung auch unter Beschäftigten in „Normalarbeitsverhältnissen.“

4. Niedriglohnentwicklung

Das Forschungsinstitut der Deutschen Wirtschaft (IW) meldete sich jüngst mit einer „Studie zur sozialen Mobilität“ zu Wort, die in die Schlagzeile mündet: „Sozialer Aufstieg ist in Deutschland die Regel.“ (Welt) Seriöse Untersuchungen wie vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit zeigen hingegen, dass „die Lohnungleichheit in Deutschland deutlich gewachsen“ und der hiesige Niedriglohnsektor zwischenzeitlich zu den größten in der EU zählt. Danach bezogen fast ein Viertel aller deutschen Beschäftigten im Jahr 2010 einen Niedriglohn.

Niedriglohnquoten1 in 17 europäischen Ländern 2010, in Prozent

Quelle: IAB Kurzbericht 15/2013

Werden nur Vollzeitbeschäftigte einbezogen, ist der Anteil der Geringverdiener etwas niedriger, aber im EU-Vergleich immer noch vergleichsweise hoch, während Deutschland hier in der zweiten Hälfte der 90er Jahre noch im Mittelfeld der damaligen EU-Länder lag.

Stärker als in anderen EU-Ländern erhalten auch Qualifizierte hierzulande einen Niedriglohn; mehr als vier von fünf Geringverdienern haben eine abgeschlossene Berufsausbildung. Selbst bei einer Kerngruppe des Arbeitsmarktes, die männlich und unbefristet beschäftigt in einem Betrieb mit mehr als 50 Beschäftigte tätig ist, mindestens 30 Jahre alt ist und eine abgeschlossene Berufsausbildung sowie die deutsche Staatsbürgerschaft hat, „ist die Niedriglohnquote höher als anderswo“, so das IAB1). Andere IAB-Untersuchungen zeigen, dass die inflationsbereinigten Verdienste Vollzeitbeschäftigter in den Jahren 2005 bis 2010 für die unteren zehn Prozent der Entgeltverteilung um sechs Prozent gesunken sind, während sie für die oberen zehn Prozent um rund ein Prozent zugenommen haben. Der Abstand zwischen den oberen und den unteren Entgeltgruppen ist demnach gestiegen.2)

Aktuelle Ergebnisse des Instituts Arbeit und Qualifikation an der Uni Duisburg weisen ferner darauf hin, dass „das Niedriglohnrisiko am stärksten für Beschäftigte mit abgeschlossener Berufsausbildung gestiegen ist und nach Arbeitszeitform für Vollzeitbeschäftigte.“3) Zudem schaffen nur relativ wenige Geringverdiener den Sprung über die Niedriglohngrenze. So gelingt es innerhalb eines Dreijahreszeitraums nur 15 Prozent der für einen Niedriglohn Beschäftigten der Aufstieg in einen besser bezahlten Job3). Jüngere Beschäftigte, die überproportional häufig für Niedriglöhne arbeiten müssen, sowie besser Qualifizierte haben dabei noch die relativ besten Aufstiegschancen.

Das nicht gerade gewerkschaftsnahe Handelsblatt distanziert sich denn auch von der Arbeitgeber-Studie und schreibt: „Wenn sie aus renommierter Quelle kommt, kann eine ökonomische Studie offenbar nicht hanebüchen genug sein, als dass man damit nicht großes Pressecho erzielen könnte (…). Man könnte mit der Studie auch die These unterfüttern, dass der soziale Abstieg immer mehr um sich greift.“4)

Es wird Zeit, dass Wirtschaft- und Politik endlich wirksame Maßnahmen für eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt ergreifen. Von der Zunahme der Erwerbstätigkeit in den letzten Jahren hat auch die sozialversicherte Beschäftigung profitiert. Doch im langfristigen Trend bleibt die Vollzeitbeschäftigung hinter diesem Trend zurück. Steigende Lohnungleichheit muss keinesfalls der Preis für steigende Beschäftigung sein. So ergeben sich für IAB „im Ländervergleich keine Hinweise auf Zusammenhänge zwischen Arbeitslosen- bzw. Erwerbstätigenquoten einerseits und dem Ausmaß der Lohnungleichheit anderseits.“ 5)


1)T. Rhein: Deutsche Geringverdiener im europäischen Vergleich; IAB-Kurzbericht 15/2013; IAB-Stellungnahme 3/2013: Lebenslagen in Deutschland. Vierter Armuts- und Reichtumsbericht, S.7 – 8

2) T.Kalinka, L. Weinkopf, Niedriglohnbeschäftigung 2011, IAQ-Report 1/2013

3) siehe IAB-Discussion Paper 1/2012, das Niedriglohnbezieher über den Zeitraum 2001 – 2006 untersucht.

4) Handelsblatt vom 30.08. bis 01.09.13, S. 10

5) IAB-Kurzbericht 15/2013, S. 1


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Bren­ke: Be­schäf­ti­gungs­quo­te und Zahl der pre­kä­ren Jobs neh­men gleich­zei­tig zu
Die aktuelle Debatte um Mindestlöhne lenkt davon ab, dass auch die mittleren Entgelte in den letzten Jahren kaum gestiegen sind, meint Karl Brenke vom DIW. Als Ursache für die gestiegene Erwerbsquote sieht er die Zunahme von Teilzeitjobs und geringfügiger Beschäftigung. Ein Interview zur Serie "Arbeitsmarkt auf den Punkt gebracht".
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