Deutscher Gewerkschaftsbund

27.10.2016
Interview

Hoffmann: "Rente mit 70? Das ist Unfug!"

Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann hat einen Kurswechsel in der Rentenpolitik gefordert. Er warnte die politisch Verantwortlichen davor, so weiterzumachen, wie die gesetzliche Lage das vorsieht. "Das ist ein gewaltiger sozialer Konfliktstoff, wenn die Menschen den Eindruck haben, immer mehr in die Rente einzuzahlen, aber immer weniger rauszubekommen", sagte Hoffmann im Interview mit der Augsburger Allgemeinen.

DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann in Gesprächssituation

DGB/Christoph Michaelis

Augsburger Allgemeine: Herr Hoffmann, Sie müssten als DGB-Chef ein glücklicher Mensch sein. Schließlich erfüllt die Koalition ein Herzensanliegen der Gewerkschaften nach dem anderen, von der Rente mit 63 über den Mindestlohn bis zur Eindämmung der Leiharbeit. Wie groß ist Ihre Freude?

Reiner Hoffmann: Natürlich freue ich mich über all das. Dennoch gibt es in Deutschland nach Litauen den größten Niedriglohnsektor in Europa. Deswegen war der Mindestlohn, der ab Januar 2017 bei 8,84 Euro pro Stunde liegt, ein erster, wichtiger Schritt. Ja, der Mindestlohn ist ein historischer Erfolg für die deutsche Gewerkschaftsbewegung. Wir können stolz sein, auch weil es uns gelungen ist, über Tarifverträge die Reallöhne zu steigern, so dass viele Bürger unterm Strich mehr Geld in der Tasche haben.

Da können Sie sich jetzt doch zurücklehnen.

Hoffmann: Zurücklehnen kommt nicht infrage. Denn nur 60 Prozent aller Erwerbstätigen kommen überhaupt in den Genuss von Tarifverträgen. Viele Arbeitgeber begehen Tarifflucht, weigern sich also, mit uns zu verhandeln, und sind auch noch stolz darauf. Das ist ein Angriff auf die Soziale Marktwirtschaft, die auf einen Ausgleich der Interessen angewiesen ist. Hier haben die Arbeitgeber noch eine steile Lernkurve vor sich. Und zurücklehnen können wir uns auch deswegen nicht, weil wir den Niedriglohnsektor weiter trocken legen müssen. Denn das Gesetz zur Eindämmung des Missbrauchs der Leiharbeit bleibt in vielen Punkten deutlich hinter den Erwartungen der Gewerkschaften zurück.

Was stört Sie so an Leiharbeit? Das Instrument ist doch notwendig, um Unternehmen mehr Flexibilität zu geben.

Hoffmann: Ich verteufle Leiharbeit nicht grundsätzlich, wenn dadurch konjunkturell oder saisonal bedingte Mehrarbeit in Betrieben aufgefangen wird. Aber das darf kein Dauerinstrument werden. Firmen schönen mit Leiharbeit ihre Bilanzen, weil der Posten nicht unter Arbeits-, sondern Sachkosten auftaucht.

Ihre Diagnose lautet: "Es geht nicht gerecht zu in Deutschland." Übertreiben Sie nicht? Wir leben doch in keinem Tal der Tränen.

Hoffmann: Wir leben nicht im Tal der Tränen, aber dass in Deutschland bei den Einkommen die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht, bestätigen selbst die Experten von Weltbank und OECD. Auch auf europäischer Ebene stellt sich die Gerechtigkeitsfrage. So liegt die Arbeitslosigkeit in Europa im Schnitt bei 22 Prozent. In südeuropäischen Ländern haben zum Teil bis zu 50 Prozent der Jugendlichen keinen Job. Das stärkt populistische, europafeindliche Parteien, gerade am rechten Rand.

Nach dem Brexit sagte selbst Ex-Kanzler Helmut Kohl, Europa brauche eine Atempause. Man müsse einen Schritt zurückgehen und dann langsam wieder zwei nach vorn.

Hoffmann: Ich bin überzeugter Europäer: Wir brauchen in Europa kein Zurück in die Kleinstaaterei. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Europa. So ist es ein Webfehler des Euro, dass wir zwar eine europäische Geld-, aber keine europäische Fiskalpolitik haben.

Wie sieht der Hoffmann-Plan zur Vitalisierung Europas aus?

Hoffmann: Das geht nur, wenn wir die soziale Dimension stärken und Wachstum sowie Beschäftigung in den Mittelpunkt stellen. Die auf einen ausgeglichenen Haushalt bedachte deutsche Sparpolitik geht in die völlig falsche Richtung. Wir dürfen nicht wie das Kaninchen vor der Schlange des Rechtspopulismus sitzen. Wir müssen dem kraftvoll etwas entgegen setzen - und das sind gute Arbeit, gute Verdienste und eine gerechtere Einkommensverteilung. Und Steuerflucht muss wirkungsvoller bekämpft werden – da hat die EU-Kommission bei der Körperschaftsteuer erste Pläne, aber die reichen nicht aus. Die EU-Kommission hat hochgerechnet, dass Europa so jährlich eine Billion Euro an Steuern entgehen.

Zur Umsetzung solcher Pläne müssten noch viele dicke Bretter gebohrt werden. Einstweilen werden die Rechten stärker. Wie viele Gewerkschafter wählen AfD?

Hoffmann: Nach Umfragen, die wir in Auftrag gegeben haben, wählten Gewerkschaftsmitglieder im Trend der Gesamtbevölkerung die AfD. Das ist ärgerlich. Aber diese Wähler sind nicht nur Rechtspopulisten. Darunter sind vielfach Menschen, die Angst haben, sozial abzusteigen oder erleben, dass sie sozial nicht aufsteigen können. Letzteres ist ein echtes Problem in Deutschland. Wir müssen die Sorgen dieser Menschen ernst nehmen und ihnen Aufstiegschancen bieten.

Sie hatten diese Aufstiegschancen.

Hoffmann: Ich bin 1955 geboren. Mein Vater war Maurer, meine Mutter arbeitete als Putzfrau. Ich war auf der Volksschule, habe dann eine Lehre gemacht und erkannt, dass mir das nicht reicht. Ich habe dann die Fachhochschulreife erlangt und konnte ohne Abitur studieren. Mein Studium habe ich als Diplom-Ökonom beendet. Heute machen nur zehn Prozent der Arbeiterkinder eine akademische Ausbildung, obwohl insgesamt viel mehr junge Menschen studieren als früher. Die soziale Durchlässigkeit unserer Gesellschaft ist extrem zurückgegangen.

Wie lässt sich ein besseres Aufstiegsklima schaffen?

Hoffmann: Wir müssen viel mehr Geld für Bildung ausgeben. Unsere Berufsschulen sind zum Teil katastrophal ausgestattet. Mehr Investitionen in Bildung sind das beste Mittel gegen Populismus. Dafür müssen wir aber in Deutschland unseren sturen Sparkurs lockern, auch im Interesse von mehr Wachstum in Europa. Europa muss ein soziales Referenzprojekt im Zeitalter der Globalisierung werden.

Doch reicht das aus, um den Menschen tief sitzende Ängste zu nehmen? Bürger sorgen sich, das Rentenniveau könnte deutlich sinken. Und ab 2020 könnten die Beiträge zur Rentenversicherung steigen.

Hoffmann: Wir brauchen einen Kurswechsel in der Rentenpolitik. Wenn wir so weiter machen, wie die gesetzliche Lage es vorsieht, wird das Rentenniveau weiter absinken, von rund 48 auf dann 43 bis 44 Prozent. Das ist ein gewaltiger sozialer Konfliktstoff, wenn die Menschen den Eindruck haben, immer mehr in die Rente einzuzahlen, aber immer weniger rauszubekommen.

Dann muss das Renteneintrittsalter steigen. Kommt die Rente mit 70?

Hoffmann: Das ist Unfug. Schon heute nehmen 30 Prozent der über 60-Jährigen nicht mehr am Erwerbsleben teil. Da muss man sich doch fragen, warum das so ist. Viele sind einfach ausgelaugt und können nicht mehr. Leider ist die Riester-Rente als zusätzliche Säule der Altersversorgung gescheitert. Wir sollten die Riester-Rente auslaufen lassen und die betriebliche Altersversorgung stärken. Mein Vierklang lautet: Bildung, gute Arbeit, sichere Rente und eine Stärkung der europäischen Integration. Damit bremsen wir den Aufstieg der Populisten in Europa. Dafür müssen wir dicke Bretter bohren.

Interview: Stefan Stahl, Augsburger Allgemeine Zeitung, 25.10.2016


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