Deutscher Gewerkschaftsbund

29.01.2016
Europas Zukunft

Die Krise als Chance

einblick 02/2016

Europa ist in einer vielschichtigen Krise. Für den DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann ist das auch eine Chance. Denn an einer offenen und breiten Debatte über die soziale Zukunft Europas führt nun kein Weg mehr vorbei.

Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes

Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) DGB/Christoph Michaelis

Nie waren die Herausforderungen größer, nie waren europäische Antworten nötiger: In den multiplen Krisen Europas sehen heute viele die Überlebensfähigkeit der EU gefährdet.

Seit das Weltfinanzsystem im September 2008 Europa in die schwerste Wirtschafts- und Finanzkrise der Nachkriegszeit stürzte, nimmt die Armut im reichsten Kontinent zu; die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander. Mehr als 22 Millionen Arbeitslose – davon 4,5 Millionen Jugendliche – sind eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt Europas. Die Regionen Europas entwickeln sich erstmals auseinander, statt weiter zusammenzuwachsen. Die Folgen sind eine ausgewachsene soziale Krise und ein erheblicher Vertrauensverlust nicht nur in den krisengeschüttelten Staaten gegenüber der EU, die für die überwiegende Mehrheit der Europäer bis dato eine Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen mit sich gebracht hatte.

Inmitten von Flüchtlingskrise und Bedrohung durch Terrorismus feiern vor allem rechtskonservative, nationalpopulistische und europaskeptische Parteien Erfolge – etwa der Front National in Frankreich. Entsolidarisierung in Europa und Renationalisierung im politischen Denken und Handeln nehmen zu, Europa als Wertegemeinschaft scheint handlungsunfähig. Die Migrationskrise stellt das vereinte Europa vor eine gewaltige Bewährungsprobe. Bekämpft werden aber vorrangig Symptome und weniger die Ursachen der multiplen Krisen.

„Entsolidarisierung in Europa und
Renationalisierung im politischen Denken und
Handeln nehmen zu, Europa als Wertegemeinschaft
scheint handlungsunfähig.“
 

Dennoch ist die Krise eine Chance, die es zu nutzen gilt, wie auch Finanzminister Wolfgang Schäuble in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kürzlich zu Recht feststellte. Dabei stellt sich die Frage, welche Chancen ergriffen werden, für wen und wie. Mit einem sozialen Fortschrittsprotokoll muss dafür gesorgt werden, dass die sozialen Grundrechte Vorrang vor wirtschaftlichen Freiheiten haben. Den gescheiterten Spardiktaten muss die Modernisierung und der wirtschaftliche Aufbau durch Investitionen folgen. Die Europäische Kommission hat richtige Wachstumsinitiativen, Investitionsprogramme und eine Jugendbeschäftigungsinitiative auf den Weg gebracht. Sie werden aber bis heute nicht entschlossen umgesetzt. Die Juncker-Forderung nach einem Triple A Rating für das soziale Europa muss der Wirklichkeit entsprechen und darf kein opportunes Lippenbekenntnis bleiben. Wir brauchen einen neuen Kurs in Europa, der sich auf die Grundlagen eines sozialen, demokratischen und solidarischen Europas besinnt.

Die Migration bietet in diesem Sinne auch eine Chance. Bei der Aufnahme von Flüchtlingen müssen die Regierungen nun endlich einen klaren proeuropäischen Kurs einschlagen und nationale Egoismen überwinden. Schutzsuchenden Flüchtlingen müssen sichere und geregelte Zugangswege nach Europa geöffnet werden, und eine gerechte Lastenverteilung muss dafür sorgen, dass die an den EU-Außengrenzen ankommenden Flüchtlinge menschenwürdig aufgenommen werden und in Europa in Sicherheit und ohne Angst leben können.

„Wir brauchen einen neuen Kurs in Europa,
der sich auf die Grundlagen eines sozialen,
demokratischen und solidarischen
Europas besinnt.“

Die nationalen Grenzen wieder zu errichten, wäre dagegen ein Desaster, es wäre gesellschaftlich wie wirtschaftlich Gift für Europa: Ohne Schengen, ohne den freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital verstopfen wir die Lebensadern der Europäischen Union. Es wird viele Kosten nach sich ziehen, wenn unsere Binnengrenzen geschlossen werden: Wir haben 1,7 Millionen GrenzgängerInnen in der EU, die täglich zur Arbeit gehen. Jede Grenzkontrolle beeinträchtigt zudem die vernetzte Produktion in ganz Europa. Die Schäden wären enorm. Die Freizügigkeit muss erhalten bleiben! Wer die Zahl der Flüchtlinge reduzieren will, muss die Ursachen bekämpfen wie Krieg und Armut und nicht Grenzen hochziehen. Armut in den Herkunftsländern ist auch ein Produkt einer einseitigen Wirtschafts- und Handelspolitik, die sich allein nach Kosten richtet und nicht nach würdigen Arbeitsbedingungen der Beschäftigten entlang der Lieferketten. Das zu ändern sind Politik wie Wirtschaft gleichermaßen in der Verantwortung. Fairer Handel bei TTIP wäre ein Anfang, diese Chance muss genutzt werden.

„Abschottung ist keine Lösung, genauso wenig, wie sich gesellschaftlicher Wandel durch Verweigerung verhindern lässt“, wie Finanzminister Schäuble treffend schrieb. Insbesondere die Briten gehen aber auf Distanz. Europäische Freizügigkeit? Flüchtlinge aufnehmen? Bitte so wenig wie möglich. Das war zuletzt die Haltung des britischen Premiers David Cameron. Wahrscheinlich schon in diesem Frühsommer stimmen die Briten über einen Verbleib in der Europäischen Union ab. Auch wenn das Land nicht zur Euro-Zone gehört, steht politisch und wirtschaftlich viel auf dem Spiel. Das Vereinigte Königreich ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Union. Mit einem Brexit würde die Gemeinschaft ein wichtiges Mitglied verlieren. Das gilt es unbedingt zu verhindern, ohne die sozialen Errungenschaften über Bord zu werfen.

„Die nationalen Grenzen wieder zu errichten,
wäre gesellschaftlich wie wirtschaftlich
Gift für Europa.“

Zur „Kommission der letzten Chance“ rief Jean-Claude Juncker seine Mannschaft zu Amtsbeginn im Oktober 2014 aus. Wenn Europa das Vertrauen der BürgerInnen zurückgewinnen will, muss sich Brüssel endlich um die großen Fragen kümmern, statt sich in den großen Konflikten der Mitgliedstaaten zerreiben zu lassen. Die Krise bietet uns jetzt die Chance für einen neuen europäischen Anlauf, weil sie eine offene und breite Debatte über die soziale Zukunft Europas unausweichlich macht.


Reiner Hoffmann, 60, ist seit Mai 2014 Vorsitzender des DGB. Zuvor arbeitete er unter anderem von 1994 bis 2009 für die  europäischen Gewerkschaften in Brüssel, zuletzt als stellvertretender Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes  (EGB).


Erschienen in: einblick 2/2016 vom 1. Februar 2016


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