In Deutschland sind über 7 Millionen Erwachsene Analphabeten. Wer nicht lesen und schreiben kann, landet oft in Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung. Der DGB ist nun dem Bündnis für Alphabetisierung des Bundesbildungsministeriums beigetreten. DGB-Vizevorsitzende Ingrid Sehrbrock erklärt warum.
DGB
Der DGB beteiligt sich an der „Nationalen Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung“. Vor welchem Hintergrund?
Ingrid Sehrbrock: Analphabetismus ist in Deutschland stärker verbreitet als man denkt. Rund 7,5 Millionen Menschen im Alter von 18 bis 64 Jahren sind funktionale Analphabeten. Sie können einzelne Wörter und Sätze lesen, nicht aber einfachste Texte. Diese Menschen bleiben oft arbeitslos oder landen in prekärer Beschäftigung. Altersarmut ist vorprogrammiert. Immerhin hat mehr als die Hälfte dieser Menschen einen Job, wenn auch vornehmlich im Niedriglohnbereich. Wir wollen die Interessen dieser Kolleginnen und Kollegen vertreten. Lesen und Schreiben sind der Schlüssel zum Arbeitsmarkt.
Was tun die Gewerkschaften für Analphabeten?
Analphabetismus geht oft einher mit Angst und Scham. Viele haben schlicht Angst um ihren Arbeitsplatz, wenn im Betrieb bekannt wird, dass sie nicht richtig lesen und schreiben können. Man vertraut sich anderen nicht an. Hier ist es wichtig, Kolleginnen und Kollegen zu finden, zu denen man Vertrauen hat. Menschen, die weiter helfen, die zum Beispiel eine gute Adresse für einen Alphabetisierungskurs geben können. Das DGB-Bildungswerk wird in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften solche „Lernberater“ für die Betriebe schulen. Wir haben uns England als Vorbild genommen, wo solche gewerkschaftlichen Lernberater schon erfolgreich arbeiten. Das ist unser Beitrag zur Nationalen Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung.
Wird die Vereinbarung, die Bund und Länder mit vielen Verbänden und dem DGB getroffen haben, dem Problem gerecht?
Diese Strategie ist ein guter erster Schritt. Aber der Beitrag der Bundesländer reicht nicht aus. In der Vereinbarung listen sie bisher vor allem die Maßnahmen auf, die sie ohnehin schon anbieten. Dabei müssten die Länder vor allem mehr Alphabetisierungskurse finanzieren. Bisher gibt es bundesweit nur rund 20.000 Plätze für 7,5 Millionen Analphabeten. Es wäre gut, wenn der Bund die chronisch klammen Länder finanziell hierbei unterstützen würde. Auch deshalb muss das Kooperationsverbot in Deutschland fallen.
Analphabeten gibt es nicht nur hierzulande. Wie sieht die Situation in anderen Ländern aus?
Großbritannien setzt seit 2001 seine "Skills for Life-Strategie" um. Im vergangenen Jahrzehnt hat man massiv in Alphabetisierung investiert. Die Zahl der Kurse wurde deutlich erhöht, gemeinsame Curricula wurden entwickelt, Betriebe, Bildungseinrichtungen und Kommunen arbeiten besser zusammen. Die Quote der Analphabeten ist signifikant gesunken. Allerdings hat man bisher 3,6 Milliarden Euro investiert. Zum Vergleich: Der Bund investiert rund 20 Millionen Euro in sein neues Alphabetisierungsprogramm. Das zeigt, dass in Deutschland alle noch eine Schippe drauflegen können.
Die Spitzenverbände der Wirtschaft beteiligen sich nicht an der Strategie. Ist das ein Manko?
In der Tat. Die Arbeitgeber-Lobby sagt, Analphabetismus sei ein Problem der Schulen und nicht der Betriebe. Bei vier Millionen Analphabeten, die erwerbstätig sind, ist das auch ein Thema für die Betriebe. Hier darf sich niemand aus der Affäre ziehen! Vielleicht setzt sich ja auch bei den Arbeitgebern eines Tages die Erkenntnis durch, dass es gut ist, wenn ihre Mitarbeiter ordentlich lesen und schreiben können. Jedenfalls ist es unglaubwürdig, lauthals über den Fachkräftemangel zu klagen und sich dem Thema der Alphabetisierung zu verschließen.