Die Pflegepolitik steht angesichts einer alternden Gesellschaft und einer gleichzeitig sinkenden Zahl von pflegenden Angehörigen vor großen Herausforderungen. Der DGB hat deshalb am 30. Oktober 2013 auf der Tagung „Aufbruch für eine bessere Pflege“ mit Expertinnen und Experten Konzepte und Ideen zur Zukunft der pflegerischen Versorgung diskutiert.
Marco Frank, Referatsleiter Pflegepolitik beim DGB-Bundesvorstand, sprach bei seiner Begrüßung von einem der wichtigsten Probleme unserer Zeit, dem auch in den aktuellen Koalitionsverhandlungen eine entsprechend große Bedeutung beigemessen werden müsse.
Dr. Klaus Haberkern von der Universtität Zürich verglich die Versorgungsstrukturen in Europa. Er stellte fest, dass es in Europa zwar erhebliche Unterschiede bei der Ausgestaltung der Pflegepolitik gibt, dass aber weiterhin in allen Ländern die Familie die wichtigste Pflegeressource darstellt. Aus diesem Grund geht es in allen europäischen Reformstrategien um eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie um eine stärkere professionelle Unterstützung pflegender Angehöriger.
Dass Pflegebedürftigkeit kein Restrisiko ist, davor warnte Prof. Dr. Heinz Rothgang von der Universität Bremen. Demnach werden voraussichtlich jeder zweite Mann und drei von vier Frauen im Laufe ihres Lebens pflegebedürftig. Weiter thematisierte er die zunehmende Anzahl pflegebedürftiger Menschen, die von heute 2,5 Millionen auf 4,5 Millionen im Jahr 2050 ansteigen könnte. Rothgang warnte vor einem enormen Pflegenotstand für die Zukunft, verursacht durch die gleichzeitige Abnahme des Erwerbspersonenpotenziales. Dem Notstand könne aber mit entschiedenen Reformen begegnet werden.
DGB/Simone M. Neumann
Bis zum Jahr 2050 könnte die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland von heute 2,5 Millionen auf 4,5 Millionen steigen.
Auf die großen Chancen, die der steigende Arbeitskräftebedarf in der Pflege bietet, verwies Ingo Nürnberger, Abteilungsleiter Sozialpolitik beim DGB-Bundesvorstand, in der anschließenden Diskussion. Doch um diese Chance nutzen zu können, müssten die Pflegeberufe deutlich attraktiver werden, „vor allem in den Bereichen Entlohnung, Arbeitsbedingungen und Ausbildung“, so Nürnberger.
Im Juni 2013 beendete der Expertenbeirat zur konkreten Ausgestaltung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs seine Arbeit. Die Ergebnisse stellte die ehemalige Leiterin der Geschäftsstelle des Beirats, Heike Hoffer, vor. Demnach wird der Bundesregierung unter anderem die Einführung von fünf Pflegegraden, anstatt der bisherigen 3 Pflegestufen empfohlen. Vor allem soll die Gleichbehandlung aller pflegebedürftigen Versicherten hergestellt werden, indem die erkrankten Menschen einen gleichberechtigten Zugang zu den Pflegeversicherungs-Leistungen erhalten.
„Ohne die Dimension der Teilhabe wird der pflegebedürftige Mensch auf den Status eines Kunden reduziert“, betonte Prof. Dr. Thomas Klie von der Evangelischen Hochschule Freiburg. So müssten pflegebedürftige Menschen mehr in das soziale Miteinander einbezogen werden. In der Pflege habe sich die Marktsteuerung nicht bewährt, vielmehr müssten die Kommunen eine größere Rolle spielen, da sie die „soziale Aufmerksamkeit“ vor Ort organisieren müssten.
Annelie Buntenbach, Mitglied des geschäftsführenden DGB-Bundesvorstandes, forderte in ihrem Grundsatzreferat einen sofortigen Aufbruch in der Pflege. Vier weitere Jahre pflegepolitischen Stillstands könne man sich nicht noch einmal erlauben. „Eine große Pflegereform ist dringend notwendig und muss einen hohen Stellenwert in den Koalitionsverhandlungen haben“, so Buntenbach.
In der abschließenden Diskussion zwischen Buntenbach, Jens Kaffenberger (stellvertretender Bundesgeschäftsführer VdK), Hermann Kostrewa (1. Beigeordneter des Landkreises Spree-Neiße) und Oliver Blatt (Leiter der Abteilung Gesundheit beim vdek) wurde noch einmal die bedeutende Rolle der Kommunen in der Pflegepolitik deutlich. In diesem Zusammenhang wurde vor allem die Wichtigkeit von Versorgungsstrukturen nah am Wohnort herausgestellt und eine bessere Absicherung der Leistungsfähigkeit der Kommunen gefordert.
Die großen Leitlinien einer überfälligen und umfassenden Pflegereform zeichneten sich im Schlussplädoyer von Annelie Buntenbach ab: bessere Leistung für Pflegebedürftige durch einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, passgenaue Unterstützung für Angehörige sowie deutlich spürbare Verbesserungen der Lohn- und Arbeitsbedingungen in der Pflege. Nur so könne eine qualitativ hochwertige Pflege gelingen. Bezahlbar wäre dies durch eine solidarisch finanzierte Bürgerversicherung in der Pflege.