Deutscher Gewerkschaftsbund

01.07.2015
One-in-one-out-Regel

Bürokratiebremse hilft einseitig der Wirtschaft

DGB-Vorsitzender Hoffmann: Bei der Bürokratiebremse wird nicht zwischen überflüssiger Bürokratie und sinnvollen Regeln unterschieden

Am 1. Juli startet die "Bürokratiebremse". Bundesministerien sollen für jede neue Regelung eine alte streichen. Das große Problem: Die Bundesregierung definiert dabei "Bürokratie" einseitig als Belastung für die Wirtschaft, soziale Aspekte spielen keine Rolle. Was die Wirtschaft als Belastung empfinde, falle künftig unter den Tisch, warnt der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann im Handelsblatt.

Beine von Männern in Anzügen

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Gastkommentar des DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann im Handelsblatt

Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes

DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann DGB/Simone M. Neumann

"Was die Wirtschaft als Belastung empfindet, fällt unter den Tisch. Sie halten das für utopisch? Im Gegenteil: Am 1. Juli macht die Bundesregierung mit der so genannten Bürokratiebremse einen großen Schritt in diese Richtung", warnt der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann in einem Gastbeitrag fürs Handelsblatt.

Ängstliche Erbsenzähler

Stellen Sie sich vor, BDA, BDI und DIHK bestimmen in Zukunft, wie Sie leben – welche Gesetze im demokratischen Prozess erlassen werden und welche nicht. Was die Wirtschaft als Belastung empfindet, fällt unter den Tisch. Sie halten das für utopisch? Im Gegenteil: Am 1. Juli macht die Bundesregierung mit der so genannten Bürokratiebremse einen großen Schritt in diese Richtung. Grundlage dieser Selbstverpflichtung aller Ministerien ist die „One in, one out-Regel“: Jede (die Wirtschaft) belastende Maßnahme soll durch eine (die Wirtschaft) entlastende Maßnahme kompensiert werden, möglichst innerhalb eines Jahres. Jedes Ministerium wird ein eigenes Bürokratie-Konto führen und hat halbjährlich dem „Staatssekretärsausschuss Bürokratieabbau“ Bericht abzustatten. Hat ein Ministerium sein Konto überzogen, also der Wirtschaft zu viel „Erfüllungsaufwand“ zugemutet, kann es „bei anderen Ressorts um die Übernahme der Kompensation nachsuchen.“

Die Gesetzgebung zu optimieren und unnötigen Verwaltungsaufwand zu vermeiden ist ein ehrenwertes Ziel. Problematisch an der „Bürokratiebremse“ ist vielmehr der statische und einseitige Ansatz. Es wird nicht unterschieden zwischen überflüssiger Bürokratie und sinnvollen Regeln. Dabei sollte gute Rechtsetzung und ein berechenbares wirtschaftliches Umfeld auch im Interesse der Wirtschaft sein. Jede Regel, jedes Gesetz lediglich als Belastung zu begreifen, ist einseitig, kurzsichtig und teuer. Mit der „Bürokratiebremse“ hat die Bundesregierung diese Denkweise verinnerlicht. Obwohl der Bürokratiekostenindex des Statistischen Bundesamtes auf niedrigem Niveau verharrt, hat die Bundesregierung aus eigenem Antrieb den Blick auf den „Erfüllungsaufwand“ der Wirtschaft verengt- und läuft Gefahr, das Allgemeinwohl aus den Augen zu verlieren. Müssten wir die Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung heute noch einmal erfinden – wer weiß, ob sie die „Bürokratiebremse“ überstehen würden? Schließlich „belasten“ Sozialbeiträge die Wirtschaft.

Das Hugo Sinzheimer Institut erwartet, dass die „One in, one out-Regel“ mit ihrer „Fokussierung auf Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft zu einer Zurückhaltung bei sozialen Innovationen durch den Gesetzgeber führen wird“ und sieht diese Gefahr auch für den Umwelt- und Verbraucherschutz. Das Problem für die Bürgerinnen und Bürger ist, dass sie ausbleibende soziale Innovationen, die „Schere im Kopf“ des Gesetzgebers nicht sehen können. Deshalb werden sie auch nicht einfordern können, was vielleicht aus Sorge um das Bürokratie-Konto erst gar nicht in einen Gesetzentwurf eingeflossen ist. Und das Parlament? Bei aller Wertschätzung –  auch den Abgeordneten des Deutschen Bundestages dürfte es schwer fallen, Gesetzentwürfe wieder mit dem nötigen Gestaltungs- und Innovationspotenzial aufzuladen. Die vermeintliche Bürokratiebremse darf nicht zu einer Demokratiebremse werden. Wer in der Politik Verantwortung übernommen hat, darf seinen demokratischen Gestaltungsanspruch nicht aufgeben – schon gar nicht freiwillig und schon gar nicht in diesen anspruchsvollen Zeiten. Bürger und Arbeitnehmerinnen brauchen eine intelligente, nachhaltige Rechtsetzung, die sich den Herausforderungen eines modernen Sozialstaates stellt. Ängstliche Erbsenzähler brauchen sie nicht.


Erschienen im Handelsblatt vom 1. Juli 2015


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