Deutscher Gewerkschaftsbund

04.07.2016

Vorteil Mitbestimmung erhalten

einblick 11/2016

Vor 40 Jahren, am 1. Juli 1976, trat das Mitbestimmungsgesetz in Kraft, vor 65 Jahren am 21. Mai 1951 das Montan-Mitbestimmungsgesetz. Über Herausforderungen und Stärken der Unternehmensmitbestimmung sprach einblick mit dem Mitbestimmungsexperten Norbert Kluge von der Hans-Böckler-Stiftung.
Norbert Kluge

Norbert Kluge

Norbert Kluge ist Experte für Mitbestimmung bei der Hans-Böckler-Stiftung Hans-Böckler-Stiftung Hans-Böckler-Stiftung

Was ist die Stärke des deutschen Mitbestimmungsmodells?
Arbeitnehmervertreter in einem Aufsichtsrat haben das Recht, ihre Meinung zu sagen und Entscheidungen für das Unternehmen mitzutragen oder abzulehnen. Das heißt, sie werden nicht nur nach ihrer Meinung gefragt, sondern sie können etwas erreichen. Das allein ermöglicht eine problemorientierte Lösungssuche mit dem Topmanagement und den Vertretern der Eigner.

Am Ende gibt es meist einvernehmliche Beschlüsse. Lassen sich die Arbeitnehmervertreter einlullen?
Ganz sicher nicht. Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen. In vielen der mitbestimmten Unternehmen ging es in den letzten Jahren um Restrukturierung, Auslagerung, Kostensenkungen. Die Arbeitnehmervertreter haben dafür gesorgt, dass Kompromisse gefunden wurden, die für die Beschäftigten erträglich waren. Ohne die Arbeitnehmervertreter gäbe es diese Lösungen nicht.

Welche Rolle spielen die Gewerkschaften?
Wir würden kaum etwas erreichen, wenn dort
Arbeitnehmertreter säßen ohne die Unterstützung von starken Gewerkschaften und Betriebsräten. Ausländischen Kollegen erkläre ich unsere Erfolge damit, dass das deutsche Modell aus einem Dreisatz besteht – Einheitsgewerkschaft, Tarifautonomie, betriebliche Mitbestimmung und on top Mitbestimmung im Aufsichtsrat.

Was erwartet ihr vom Gesetzgeber, um die Mitbestimmung zu modernisieren?
Der Staat wird nicht alles lösen können, aber er kann die Chancen für Lösungen verbessern. Gut ist, dass die Bundesregierung sich dazu bekennt, die Tarifautonomie zu stärken. Das ist vor allem auch deshalb wichtig, weil die Sozialpartner künftig ganz neue Gestaltungsaufgaben zu lösen haben. Niemand kennt die Arbeit der Zukunft, die Auswirkungen der Digitalisierung, der Transnationalisierung. Wenn keiner die Zukunft kennt, kann auch niemand einseitig die Probleme lösen. Flexibilitätskompromisse zwischen den Interessen der Beschäftigten, der Unternehmen und der Allgemeinheit müssen entwickelt werden. So will das auch die Bundesarbeitsministerin. Wenn die Politik Flexibilitätskompromisse einfordert, müssen diejenigen, die sie schließen sollen, stark gestellt werden.

Was ist dafür erforderlich?
Notwendig ist, die Tarifautonomie und die betriebliche Mitbestimmung zu stärken. Erstens: Tarifverträge müssen gelten und verbreitet sein. Das kann die Politik fördern, indem sie zum Beispiel bestimmte Aufgaben an die Tarifparteien überträgt. Zweitens brauchen die existierenden Betriebsräte und all diejenigen, die einen Betriebsrat gründen wollen, ausreichenden Schutz.

Betriebsräte zu verhindern oder zu behindern, ist aber doch schon heute illegal?
Ja, aber es wird nicht mit Strafrecht bewehrt. Die Gewerkschaften fordern einen besseren Schutz derjenigen, die einen Betriebsrat gründen wollen, und die Wahlverfahren müssen vereinfacht werden, Das ist möglich – so kann in Österreich schon innerhalb eines Tages ein Betriebsrat gegründet werden.

Was heißt Modernisierung für die Unternehmensmitbestimmung?
Die Mitbestimmungsgesetze stammen aus einer Zeit, in der Globalisierung und europäisches Gesellschaftsrecht noch nicht Thema waren. Die Gesetze werden heute von einer gut organisierten Rechtsanwaltsindustrie systematisch umgangen. Wir nennen das Flucht vor der Mitbestimmung. Die Unternehmen, die bereits der Mitbestimmung unterliegen, bleiben in der Regel dabei. Aber es kommt kaum noch ein neues Unternehmen hinzu. Zurzeit haben wir 639 Unternehmen nach dem 1976er Mitbestimmungsgesetz. Ein Weg zur Umgehung ist die Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft, einer SE. Gab es in einer SE vorher Mitbestimmung, gibt es sie auch später. Viele SE werden aber gegründet, bevor der Schwellenwert von 500 Beschäftigten erreicht wurde. Unterlagen sie vorher nicht der Mitbestimmung, tun sie es danach nie wieder, egal wie sehr sie wachsen, so das geltende Recht.

Welche weiteren Formen der Mitbestimmungsflucht gibt es?
Zum Beispiel Familienstiftungen, die riesige Konzerne führen, aber per Gesetz nicht der Mitbestimmung unterliegen, obwohl die Zahl der Beschäftigten gesamt alle Schwellenwerte toppt. Das gilt etwa für die Betreiber von Aldi Nord und Süd.

Wie unterstützt die Hans-Böckler-Stiftung die Offensive Mitbestimmung des DGB?
In vielerlei Hinsicht. Wer bei den Erosionserscheinungen jetzt nicht politisch aktiv wird, verspielt den Vorteil Mitbestimmung. Deshalb liefern wir als Kompetenzcenter in Sachen Mitbestimmung den empirischen und wissenschaftlichen Hintergrund zur Erosion der Mitbestimmung und organisieren den Dialog mit Wissenschaft, Praxis und Politik. Wir nennen in Abstimmung mit DGB und Gewerkschaften Ross und Reiter bei krassen Fällen der Umgehung von Mitbestimmung. Andererseits zeigen wir aber auch mit unserer Reihe „Böckler vor Ort“, welche Vorteile Unternehmen und ihre Regionen von einer gelebten Mitbestimmungskultur haben.  


Erschienen in: einblick 11/2016 vom 06. Juni 2016


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