Deutscher Gewerkschaftsbund

28.10.2010

Arbeitsmarktzahlen: Langzeitarbeitslose profitieren nicht

Wilhelm Adamy

Wilhelm Adamy ist Abteilungsleiter Arbeitsmarktpolitik beim DGB Bundesvorstand. DGB

Heute hat die Bundesagentur für Arbeit neue Arbeitsmarktdaten vorgelegt. Demnach sind weniger als drei Millionen arbeitslos. Diese Zahl hatte bereits gestern - und dies ein Novum - die Bundesarbeitsminsterin verkündet. Jedoch ist die "gute Nachricht", die sich die Ministerin da ans Revers heften möchte, nicht so gut, wie es auf den ersten Blick scheint. Fragen an den DGB-Arbeitsmarktexperten Wilhelm Adamy.

Werden wir durch den Aufschwung dauerhaft unter der Marke von 3 Millionen Arbeitslosen liegen?

Wilhelm Adamy: Insbesondere Tarifpolitik und betriebliche Arbeitszeitpolitik haben zunächst die Beschäftigung stabilisiert; jetzt profitieren die krisengeschüttelten Branchen vom wieder anziehenden Export. Aber: Niemand kann sagen, ob die Krise bereits überwunden ist. Bisher wurden nur die Symptome der Finanzkrise bekämpft nicht hingegen ihre Ursachen.

Inwiefern spielen statistische Tricks eine Rolle?

Durch Änderungen in der Arbeitslosenstatistik und durch die demografische Entlastung des Arbeitsmarktes (jeweils 200.000 in 2010 und 2011) wirken die Zahlen positiver als sie sind. Immer noch sind nach der offiziellen Statistik der BA rund 4,5 Millionen Menschen auf der Suche nach einem regulären Arbeitsplatz. Und trotz des vom Bundeswirtschaftsminister ausgerufenen „Jobwunders “ werden Monat für Monat etwa 200.000 Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeitslos.

Klingt nach ansteigender Langzeitarbeitslosigkeit. Geht der Trend vom Arbeitslosengeld I hin zu Hartz IV?

Vom krisenbedingten Anstieg der Arbeitslosigkeit war die Arbeitslosenversicherung weit stärker betroffen; kann jetzt aber auch stärker von der Erholung profitieren. Das Hartz IV-System reagiert schwächer und zeitverzögert auf konjunkturelle Schwankungen. Gut zwei Drittel der Arbeitlosen sind bereits auf Hartz IV angewiesen. Die Sicherungslücken bei Verlust des Arbeitsplatzes werden immer größer. Ein Viertel derjenigen, die ihren Job auf dem ersten Arbeitsmarkt verlieren, werden z.B. direkt aufs Hartz IV-System verwiesen. Sie waren nicht lange genug sozialversichert beschäftigt oder erhalten ein so niedriges Arbeitslosengeld, dass durch Hartz IV aufgestockt werden muss.

Wer trägt hauptsächlich die Kosten der Arbeitslosigkeit?

Einen Großteil der arbeitsmarktpolitischen Krisenlasten haben die Beitragszahler zur Arbeitslosenversicherung aus eigener Kraft gestemmt. Sowohl das Defizit der BA in 2009 wie im ersten Halbjahr 2010 konnte voll aus Beitragsrücklagen gedeckt werden. Wie kein anderer öffentlicher Haushalt hat die Arbeitslosenversicherung in besseren Zeiten mit einer Rücklage von 17 Mrd. Euro Vorsorge getroffen...

...das heißt, diejenigen, die in die Arbeitslosenversicherung einzahlen - die regulär sozialversichert Beschäftigten, die Tragen die Kosten?

Ja, diese eingebrachten Beitragsmittel sind ein Sonderopfer der Beitragszahler zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes in der Krise. Lediglich für das Defizit in der zweiten Jahreshälfte muss der Bund Steuermittel zuschießen. 16 Mrd. Euro Zuschuss hat der Bund dafür eingeplant, doch nur knapp die Hälfte davon wird tatsächlich gebraucht. Die Arbeitslosenversicherung leistet in diesem Jahr einen wichtigen Beitrag zur Schuldenreduzierung des Bundes. Zudem nimmt der Bund Jahr für Jahr aus den Arbeitslosenbeiträgen 5 Mrd. Euro wieder heraus, um damit seinen eigenen Haushalt zu finanzieren. Etwa ein Viertel der gesamten Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zweckentfremdet der Bund, um seinen eigenen Haushalt zu finanzieren.  Dies ist  ordnungs- und verteilungspolitisch verkehrt, da nur die Beitragszahler zur Kasse gebeten werden.

Hat sich die Bereitschaft der Arbeitgeber Beschäftigung zu schaffen seit der Krise verändert?

In vielen krisengeschüttelten Betrieben wurde versucht die Arbeitskräfte zu halten. Doch in der Leiharbeit war und ist Heuern und Feuern immer noch an der Tagesordnung. Nach einer rasanten Entlassungswelle stieg hier die Beschäftigung zwischenzeitlich wieder um 120.000, doch vormals entlassene Arbeitskräfte haben kaum eine Chance. Aber auch in anderen Branchen steigt die Zahl der prekär bzw. befristet Beschäftigten. Fast jede zweite Neueinstellung erfolgt nur noch befristet. Die  konjunkturelle Erholung geht an den Langzeitarbeitslosen vorbei und die Arbeitslosigkeit der Älteren sowie der Menschen mit Behinderung liegt immer noch über Vorjahresniveau.

Sozialversicherte und prekäre Beschäftigung - welche Tendenz ist auf dem Arbeitsmarkt zu erkennen?

Die sozialversichte Beschäftigung steigt momentan zwar wieder leicht an, doch längerfristig haben prekäre Beschäftigungsformen weit stärker zugenommen.
Heute üben von allen Erwerbstätigen 68,7 Prozent einen sozialversicherten Job aus, während zu Beginn der Neunziger Jahre noch drei Viertel der Erwerbstätigen sozialversichert beschäftigt waren. Die Finanzierungsbasis der Sozialversicherungssysteme ist deutlich schmäler geworden.

Die Bundesagentur für Arbeit soll für 2011 keinen Bundeszuschuss mehr erhalten. Welche Konsequenzen hat das?

Die Arbeitslosenversicherung und ihre Beitragszahler werden mit den arbeitsmarktpolitischen Krisenfolgen allein gelassen, der Finanzsektor hingegen immer noch geschont und hier ein mehrjähriger staatlicher Rettungsschirm gespannt. Die geplanten Kürzungen in der Arbeitsförderung sind massiv. Trotz Fachkräftebedarf werden etwa 100.000 Menschen in beiden Systemen weniger gefördert werden können. Allein in der Arbeitslosenversicherung sollen 1,5 Mrd. Euro gestrichen werden. Der Bund stiehlt sich wieder einmal aus der arbeitsmarktpolitischen Verantwortung und die arbeitsmarktpolitischen Opfer der Finanzkrise werden im Regen stehen gelassen. Die Weiterbildungschancen werden sinken, Langzeitarbeitslosigkeit und Armut deutlich steigen.

Was sollte die Bundesregierung tun?

Die deutsche Wirtschaft sollte besser eingebunden werden. Die konjunkturelle Erholung kommt bei vielen Menschen gar nicht an. Ein Mindestlohn von 8,50 Euro sowie gleicher Lohn für gleiche Arbeit auch für Leiharbeitskräfte müssen gesetzlich garantiert werden. Dies ist für viele Voraussetzung dafür, dass sie bei Vollzeit von ihrer Arbeit auch leben können. Die Kaufkraft würde gestärkt, Hartz IV-Bedürftigkeit zurückgedrängt und staatlich subventioniertes Lohndumping endlich gestoppt.


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