Deutscher Gewerkschaftsbund

28.07.2005
Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer zum Thema Mindestlöhne

Gute Arbeit – Würde, Respekt und gutes Geld

Auszug aus dem Beitrag zum Zustand des Kapitalismus im 21. Jahrhundert

"...In Deutschland arbeiten 7,5 Millionen Menschen, die verdienen nicht einmal drei Viertel des Durchschnittseinkommens. 2,5 Millionen verdienen nicht einmal die Hälfte. Da geht es nicht um Riesen-Summen, wie manche Ideologen unterstellen. Da geht es um Brutto-Monatslöhne von 600 bis 700 Euro aufwärts bis 1600, 1700 Euro. Da geht es um Stundenlöhne von drei, vier oder sieben Euro!

Es geht um Millionen Einzelschicksale. Hier sind drei:

Einer 49jährige Verkäuferin aus Stuttgart drohte der Arbeitgeber mit Entlassung, wenn sie nicht 38 statt 23 Stunden arbeiten würde - fürs gleiche Geld! Sie blieb und verdient unverändert 800 Euro im Monat. Die Aussichten für alleinstehende Mütter seien eben schlecht auf dem Arbeitsmarkt.

Ein 51jähriger ehemaliger Bergbauarbeiter aus Dortmund schiebt heute für drei Euro Stundenlohn Dienst als Wachmann. Die Rechnung über 500 Euro für seine IHK-Prüfung musste er selbst bezahlen.

Und nicht zu vergessen, der Küchenchef aus Berlin, der statt einer Lohnabrechnung plötzlich 2000 Euro in bar bekam. Für Versicherung und Steuer solle er nun selbst sorgen. Wenn es ihm nicht passe, solle er gehen, draußen warteten hunderte andere auf seinen Job.

So bitter es ist, wir haben Tarifverträge abgeschlossen, die bringen einer Verkäuferin in einer saarländischen Bäckerei gerade mal 1000 Euro Bruttolohn. Oder einem jungem Friseur aus Sachsen 3 Euro 82 Cent in der Stunde. Macht am Ende des Monats 615 Euro.

Ist das ein gerechter Lohn? Oder nutzen die Arbeitgeber dieser Branchen nicht schamlos die Massenarbeitslosigkeit aus? Wie soll denn ein Tarifvertrag wirken, wenn von mehr als 20.000 Berliner Gastwirtschaften nur noch 1200 im Arbeitgeberverband sind? Da können wir unsere Mitglieder einfach nicht mehr vor vielfachem Lohndumping und teilweise entwürdigenden Arbeitsbedingungen schützen.

Wenn wir wissen wollen, warum die Stimmung im Land ist, wie sie ist, dann müssen wir uns klar darüber werden, dass wir hier über 5 Millionen Arbeitslose und 7,5 Millionen prekär Beschäftigte reden, also von mehr als 12 Millionen Menschen, ihre Angehörigen noch gar nicht mitgezählt.

Diese Menschen können nicht warten, bis wir mit beherzter Wirtschaftspolitik die Rahmenbedingungen für Wachstum der Wirtschaft und Arbeitsplätzen verbessert habe. Sie erwarten zu Recht von jeder Partei, die sich bis September um eine politische Mehrheit bemüht, zügig eine Lösung ihrer ganz existenziellen Probleme.

Als Gewerkschafter steht für mich fest: Tarifverträge müssen immer an erster Stelle stehen, wenn es darum geht, Beschäftigten ihren Anteil am Wohlstand zu sichern und sie vor Lohndumping zu bewahren.

Wo wir flächendeckend ordentliche Tarifverträge haben, bin ich sehr dafür, dass sie mit Hilfe des Entsendegesetzes für allgemeinverbindlich erklärt werden.

Wo aber Zustände wie in der Berliner Gastronomie herrschen, ist es natürlich unsere erste Aufgabe als Gewerkschaften, dass wir wieder stärker werden, um die Arbeitgeber zu Tarifverhandlungen zu bewegen. Aber dafür brauchen wir Zeit. Und deshalb brauchen die Menschen in vielen Branchen gesetzliche Mindestlöhne - also der Lage des jeweiligen Wirtschaftszweiges angemessen.

Die Untergrenze setze ich bei einem Stundenlohn von 7,50 Euro Stundenlohn an, das sind umgerechnet rund 1200 Euro Monatslohn. Es gibt dafür eine Reihe von Gründen:

  • Die Pfändungsfreigrenze liegt bei einem Nettolohn von 939 Euro. Das entspricht einem Bruttolohn von rund 1200 Euro.
  • Die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens wird mit 1200 Euro in etwa erreicht. Ich glaube, es gebietet einfach schon der Anstand, dass niemand mit weniger als der Hälfte eines mittleren Einkommen leben muss.
  • Im Vergleich mit Frankreich und Italien, den Niederlanden und Großbritannien würden sich gesetzliche Mindestlöhne von 7,50 Euro in der Stunde an aufwärts voll im europäischen Rahmen bewegen.

Durch den Vorrang der Tarifautonomie wird die Politik gar nicht umhin können, als die Mindestlöhne nach Branchen zu differenzieren. Dabei sollten die Tarifparteien mit von der Partie sein. Freilich: Dazu müssen auch die Arbeitgeber ihre Blockadehaltung gegen Allgemeinverbindlichkeitserklärungen aufgeben. Aber wir werden sie politisch nicht mehr aus der Klammer lassen.

An den Branchen Bau und Gastronomie wird das deutlich: Am Bau ist nicht der Organisationsgrad von Arbeitgebern und Beschäftigten schlecht. Vielmehr stand die Bauwirtschaft unter erheblichem Preis- und vor allem Lohndruck durch Billigkonkurrenz aus anderen europäischen Ländern. Deswegen ist der höchste Mindestlohn mit 2100 Euro im Monat das Ergebnis eines per Entsendegesetz für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages.

Ganz anders bei den Gaststätten und im Hotelgewerbe. Dort ist die Tarifbindung so schlecht, dass keine anständigen Tarifverträge zustande kommen können. Kurzum: In der Branche herrscht in weiten Teilen Wildwest. Diesen Zuständen muss sich Politik stellen. Wir brauchen also unter Wahrung der Tarifautonomie meines Erachtens nicht eine einzige Lösung. Sondern ganz nach dem Prinzip der Subsidiarität abgeleitete oder ähnliche Systeme.

Der Mensch muss wieder in den Mittelpunkt aller Politik zurückkehren. Die Ökonomie an sich schafft keine Werte. Kann sie ungehemmt ihre Kräfte entfalten, werden sehr schnell aus einzelnen Fehlentwicklungen Flächenbrände. Die Menschen erwarten Antworten auf die zerstörerischen Kräfte des Marktes. Und sie haben ein Recht darauf, dass die politische Elite sich ihren Primat von der Ökonomie zurückholt. Der Einsatz für angemessene gesetzliche Mindestlöhne kann in der politischen Auseinandersetzung unserer Zeit für Millionen Menschen sehr deutlich machen, welche Partei, welcher Kandidat auf welcher Seite steht. Ob Mindestlohn oder Re-Regulierung der Finanzmärkte: Ich kann nur allen Politikern raten: Enttäuscht die Menschen nicht!"

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