Immer wieder beklagen Arbeitgeber, dass die Arbeitszeiten in Deutschland zu starr geregelt seien, dass die Digitalisierung mehr Flexibilität brauche. Doch eine Auswertung der Tarifverträge in 18 Branchen zeigt: Es gibt schon jetzt viele Ausnahmen, die Betriebe können sich über mangelnde Spielräume nicht beklagen.
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Die Arbeitswelt 4.0 braucht Beschäftigte, die flexibel einsetzbar sind, unabhängig von festen Orten und starren Schichten: Das fordern Unternehmen und Arbeitgeberverbände immer wieder. Und übersehen dabei, dass es diese Flexibilität längst gibt: Schon heute gibt es in den Tarifverträgen zahlreiche Ausnahme- und Sonderregelungen, zum Beispiel bei der täglichen Arbeitszeit. Nachholbedarf besteht eher auf Seiten der Beschäftigten.
Denn: Auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wünschen sich flexiblere Arbeitszeiten. Sie verstehen darunter jedoch etwa anderes als die Arbeitgeber: Während es diesen in der Regel darum geht, das Personal bei Bedarf ohne Rücksicht auf Achtstunden-Tage oder Mindestruhezeiten länger arbeiten zu lassen, wollen die Beschäftigten ihre Arbeitszeit besser an die eigenen Bedürfnisse anpassen können.
Tarifverträge versuchen, diese unterschiedlichen Interessen in Einklang zu bringen. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung hat nun untersucht, wie gut das in der Praxis gelingt. Dazu haben die Forscher die aktuellen Regelungen in 23 Tarifgebieten ausgewertet. Ergebnis: "Der Analyse zufolge können sich die Betriebe über mangelnde Spielräume nicht beklagen", sagt Dr. Reinhard Bispinck, Leiter des WSI-Tarifarchivs.
"Die Auswertung zeigt, dass pauschale Forderungen nach noch mehr Flexibilisierung und einer Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes nicht nur unnötig sind. Sie würden die Probleme von Beschäftigten, die Arbeit und Familienleben unter einen Hut bringen müssen, weiter verschärfen."
In vielen Branchen sind Abweichungen von der Wochenarbeitszeit auch dauerhaft möglich. In der Chemiebranche etwa kann sie in einem Korridor zwischen 35 und 40 Stunden variieren. Darüber hinaus sind häufig auch zeitlich begrenzt Arbeitzeiten von bis zu 10 Stunden am Tag und 50 Stunden in der Woche möglich. Bei den Überstunden gibt es beispielsweise in der Druckindustrie und dem bayerischen Hotel- und Gaststättengewerbe überhaupt keine tarifliche Regelungen, ein Freizeitausgleich ist nur in zwei Branchen zwingend vorgeschrieben.
Alles in allem sei das Flexibilitätspotenzial der tariflichen Arbeitszeitbestimmungen aus betrieblicher Sicht sehr hoch, resümiert Bispinck. Dagegen könne von einer flächendeckenden und wirksamen tariflichen Regulierung von Arbeitszeitoptionen, die den Interessen der Beschäftigten Rechnung tragen, keine Rede sein.
Weitere Infos: www.boeckler.de