Deutscher Gewerkschaftsbund

18.03.2014
Mindestlohn-Studie

Adamy: 8,50 Euro Mindestlohn auch für Langzeitarbeitslose

Die große Koalition plant einen allgemeinen flächendenkenden Mindestlohn. Damit greift die Politik endlich eine langjährige Forderung von DGB und Gewerkschaften auf. Doch Wirtschaft und Union wollen unzählige Ausnahmen vom Mindestlohn – zum Beispiel für Langzeitarbeitslose. Eine Analyse von DGB-Arbeitsmarktexperte Dr. Wilhelm Adamy für die Zeitschrift "Soziale Sicherheit".

Dr. Wilhelm Adamy

Dr. Wilhelm Adamy DGB

Mit der geplanten Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns von zunächst 8,50 Euro die Stunde wird eine langjährige Forderung von DGB und Gewerkschaften von der großen Koalition aufgegriffen. In einer Übergangszeit bis 01.01.2017 sollen allerdings Ausnahmen für tariflich vereinbarte Entgelte unter 8,50 Euro möglich sein. Doch Wirtschaft und Union wollen den Mindestlohn durch unzählige Ausnahmen massiv durchlöchern. Sie schieben die Schwächsten am Arbeitsmarkt vor, um eine flächendeckende Lohnuntergrenze möglichst doch noch verhindern zu können.

So setzt sich CSU-Chef Seehofer dafür ein, dass Langzeitarbeitslose auch künftig mit weniger als 8,50 Euro bezahlt werden können; der neue Arbeitgeberpräsident Kramer schwingt sich zum Interessenvertreter der am Arbeitsmarkt benachteiligten Personengruppen auf. Die schädlichen Wirkungen eines gesetzlichen Mindestlohns sollten – so die Arbeitgeber – durch Aufweichungen des geplanten Mindestlohns – zumindest begrenzt werden. Bei Langzeitarbeitslosigkeit fordert der Arbeitgeberpräsident, dass mindestens für die ersten zwölf Monate einer Beschäftigung weniger als 8,50 Euro gezahlt werden sollte. Doch was auf den ersten Blick einen sozialen Anstrich hat, entpuppt sich schnell als die Fortsetzung von Lohndumping und Wettbewerbsverzerrung zu Lasten jener Unternehmen, die fair entlohnen.

"Was auf den ersten Blick einen sozialen Anstrich hat, entpuppt sich schnell als die Fortsetzung von Lohndumping und Wettbewerbsverzerrung"

Langzeitarbeitslos wird hier allzu leichtfertig mit unqualifiziert und nicht vermittelbar gleichgesetzt. Tatsächlich haben 48 Prozent der Langzeitarbeitslosen eine abgeschlossene Berufsausbildung und drei Viertel aller Langzeitarbeitslosen sind jünger als 55 Jahre. Obwohl Unternehmen heute noch Langzeitarbeitslose zu Hungerlöhnen bis an die Grenze der Sittenwidrigkeit beschäftigen können, finden sie bisher nur selten eine Beschäftigung. Doch kein Wort hört man von den Arbeitgebern dazu, dass die Prekarisierung in der Arbeitswelt sowie die Hartz-Gesetze massiv dazu beigetragen haben, dass ein Teil der Arbeitslosen nicht dauerhaft Fuß auf dem regulären Arbeitsmarkt fassen kann. Einstellungen erfolgen oftmals nur in der Leiharbeit, wo die Gewerkschaften aber bereits heute einen Mindestlohn von 8,50 Euro im Westen haben durchsetzen können, der ab April nächsten Jahres auf 8,80 Euro steigt. Aber auch in anderen Niedriglohnbereichen, wie der Gebäudereinigung sowie dem Wach- und Sicherheitsgewerbe liegt der Mindestlohn meist um 8,50 Euro. Im Maler- und Lackiergewerbe erhalten Ungelernte in Ost und West z. B. einen Mindestlohn von 9,90 Euro und in der Abfallwirtschaft von 8,68 Euro.

Langzeitarbeitslose sollen folglich herhalten, um diese Mindestlöhne auch künftig durchlöchern und möglichst kaputtschießen zu können. Es sei daran erinnert, dass mit Langzeitarbeitslosen bereits Hartz IV und der größte Sozialabbau in der bundesdeutschen Geschichte zu rechtfertigen versucht wurde. Doch auch der massive Einsatz von Ein-Euro-Jobs und der massenhafte Verweis auf die Sozialhilfe sind keine erfolgreiche Strategie zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Die OECD beklagt einen nach wie vor im Vergleich zu anderen Industrienationen sehr hohen Anteil der Langzeitarbeitslosigkeit. Den Kritikern des Mindestlohns verschlägt es jedoch die Sprache, wenn die massive Kürzung der Fördermittel der letzten Jahre für Langzeitarbeitslose thematisiert werden müsste oder wenn verschuldete Arbeitslose mangels ausreichender Förderung teils so lange auf eine Schuldnerberatung warten müssen, wie normalerweise eine Schwangerschaft dauert.

"Rechtfertigt eine hoher Anteil an Langzeitarbeitslosen die unbefristete Subventionierung von Hungerlöhnen?"

In vielen Regionen NRWs oder auch in Bremen ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen doppelt so hoch wie zum Beispiel in Bayern. Rechtfertigt dies auch künftig unbefristete Subventionierung von Hungerlöhnen? Ist es zu viel verlangt, wenn auch Ungelernte im Ruhrgebiet bei 8,50 Euro auf 1.400 Euro brutto im Monat kommen und als Alleinstehende ohne Kinder – nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben – auf etwa 1.000 Euro im Monat? Langzeitarbeitslosigkeit ist insbesondere dort relativ hoch, wo die Menschen seit Jahren in besonderer Weise vom Strukturwandel betroffen sind. Mit den von den Arbeitgebern geforderten Ausnahmeregelungen geht es vorrangig darum, dass Arbeitslosigkeit nach wie vor Umschlagplatz für ungünstigere Arbeitsbedingungen wird.

Die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit muss hingegen vorrangig mit sozial flankierender Stabilisierung, zusätzlichen Weiterbildungsanreizen und besseren Weiterbildungsmöglichkeiten sowie nachgehender Betreuung zur Stabilisierung von Beschäftigungsverhältnissen einhergehen. Die Arbeitsförderung kann gleichfalls mit befristeten Eingliederungszuschüssen verstärkt werden, die in der Einarbeitungsphase gezahlt werden. Dies ist die eindeutig besseren Alternative zu (unbefristeten) aufstockenden Hartz-IV-Leistungen, die Unternehmen – anders als bei individuellen Lohnkostenzuschüssen – schnell bei ihrer Lohnkalkulation einstellen können; nicht existenzsichernde Löhne mit ergänzendem Hartz IV laden auch künftig zu betrieblicher Mitnahme und arbeitsmarktpolitischen Verdrängungseffekten ein.

Die Verweigerung eines Mindestlohns für Langzeitarbeitslose stellt zugleich eine sachlich nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung gegenüber anderen Arbeitslosen dar, da Langzeitarbeitslosigkeit eine manipulationsanfällige statistische Größe ist; so führen bereits die kurzfristige Übernahmen eines EinEuro-Jobs oder eine vorübergehende Erkrankung zur statistischen Beendigung der Arbeitslosigkeit – ohne dass sich an der persönlichen Situation etwas nachhaltig geändert hat. Die Durchlöcherung des Mindestlohns, auch nur für Langzeitarbeitslose, fördert Rechtsunsicherheit und neue Umgehungsstrategien, die fairen Wettbewerb aufs Neue unterlaufen und arbeitsmarktpolitische Verwerfungen fördern.

"Die Verweigerung eines Mindestlohns für Langzeitarbeitslose ist eine sachlich nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung gegenüber anderen Arbeitslosen dar."

Mit dem Verweis auf Ausnahmeregelungen für die Schwächsten am Arbeitsmarkt wird nicht etwa deren Position auf dem Arbeitsmarkt gestärkt, sondern Ungleichbehandlung und das Machtgefälle bei der Aushandlung der individuellen Arbeits- und Entlohnungsbedingungen durch die Hintertür zu verstärken versucht. Aus gutem Grund hat das Bundesverfassungsgericht betont, dass eine besonders strenge Prüfung erforderlich ist, wenn personengebundene Merkmale eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen soll.

Ein vom DGB und WSI in Auftrag gegebenes Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass „Mindestlohnausnahmen nur gerechtfertigt sind, wo sie sich auf Pflichtpraktikantinnen und –praktikanten, Auszubildende und ehrenamtliche Tätige beziehen, da diese Personen in keinem Arbeitsverhältnis stehen. Eine Ungleichbehandlung der übrigen diskutierten Personengruppen ist verfassungs-, völker- und unionsrechtlich unzulässig.“ (Pressemitteilung DGB vom 18.03.2014)

Auch Großbritannien und andere EU-Länder mit Mindestlohn haben denn auch Langzeitarbeitslose in den Mindestlohn einbezogen. Doch selbst Schutzregelungen, die dort funktionieren, sind vielen bei uns ein Dorn im Auge. Auch bei uns muss der Mindestlohn jetzt endlich ohne Ausnahme eingeführt und seine Durchsetzung mit wirksamen Kontrollen sichergestellt werden – denn Würde darf keine Ausnahmen kennen.

Erschienen in Soziale Sicherheit 3/2015

Wilhelm Adamy: Verweigerung des Mindestlohns für Langzeitarbeitslose ist durch nichts zu rechtfertigen (PDF, 18 kB)

Eine Analyse von DGB-Arbeitsmarktexperte Dr. Wilhelm Adamy für die Zeitschrift "Soziale Sicherheit".


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