Deutscher Gewerkschaftsbund

19.02.2013
Interview

Tarifverträge: "Regeln müssen wieder für alle gelten"

"Wir brauchen eine Stärkung der Tarifautonomie und der Tarifverträge", sagt  DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach dem Weser-Kurier. Ein Interview über Mindestlöhne, den Niedriglohnsektor und die Bedeutung von tariflichen Regelungen.

Annelie Buntenbach

DGB/Jana Stritzke

Im Niedriglohnsektor muss der Gesetzgeber dringend handeln, fordert DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Denn: "Immer öfter werden reguläre Arbeitsplätze in Leiharbeit oder Minijobs umgewandelt. Arbeitslose werden in diese mies bezahlten Jobs gedrängt, weil sie keine andere Wahl haben."

Weser-Kurier: Haben es Arbeitnehmer heute schwerer als noch vor zehn Jahren?

Annelie Buntenbach: Die Belastungen haben sich verändert. Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist durch das immense Anwachsen des Niedriglohnbereichs tief gespalten. Fast jeder Vierte arbeitet in prekären Jobs und zu Löhnen, von denen man gar nicht leben kann. Wenn in einem Betrieb eine Autotür für 16 Euro und die andere durch einen Leiharbeitnehmer plötzlich für zehn Euro eingebaut wird, dann ist klar: Hier werden abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse untertunnelt. Das empfinden die Menschen – und zwar beide Seiten – als Bedrohung und als Druck. Auch deshalb haben psychische Erkrankungen in letzter Zeit immens zugenommen.

Überspitzt gefragt: Sind es nicht auch ein Stück weit die Arbeitnehmer selbst, die für diese Situation verantwortlich sind, wenn sie solch prekäre Verträge unterschreiben?

Das sind ja Not- und Drucksituationen, die von vielen Arbeitgebern schlicht missbraucht werden. Immer öfter werden reguläre Arbeitsplätze in Leiharbeit oder Minijobs umgewandelt. Arbeitslose werden in diese mies bezahlten Jobs gedrängt, weil sie keine andere Wahl haben. Deshalb brauchen wir ganz dringend gesetzliche Veränderungen: Der gesetzliche Mindestlohn ist lange überfällig. Da hat die jetzige Regierung bis heute versagt. Das gilt auch für gleichen Lohn für gleiche Arbeit und eine Minijob-Reform.

Bremen fordert auf Bundesebene einen Mindestlohn von 8,50 Euro. Geht dieser Vorstoß weit genug?

Der DGB fordert einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro als unterstes Auffangnetz. Aber wir wissen, dass man davon keine großen Sprünge machen kann. Deswegen wollen wir den Mindestlohn erst einmal im Gesetz stehen haben. Dann werden wir auch schnell für eine Erhöhung kämpfen.

"Der gesetzliche Mindestlohn ist lange überfällig. Da hat die jetzige Regierung bis heute versagt."

Auf dem Papier sieht die Arbeitslosenquote im Vergleich zu vor einigen Jahren sehr gut aus. Verschleiern solche Statistiken die reale Situation?

Die Arbeitslosigkeit ist durchaus zurückgegangen, aber wir haben noch immer eine Unterbeschäftigung von vier Millionen. Zudem haben wir mit dem wachsenden Niedriglohnsektor und der prekären Beschäftigung Entwicklungen am Arbeitsmarkt, die man in der Arbeitslosenstatistik nicht sehen kann. Der Arbeitsmarkt ist also alles andere als in Ordnung.

Die Aufgabe der Gewerkschaften besteht darin, alle Arbeitnehmer – egal ob Leiharbeiter oder tariflich Beschäftigte – zu organisieren. Wie soll das funktionieren, wenn etwa die Leiharbeiter dauerhaft in Betrieben eingesetzt werden?

Die Gewerkschaften haben das Problem auf die Tagesordnung gesetzt und auch erste Erfolge durchsetzen können, zum Beispiel durch Branchenzuschläge in der Leiharbeit. Wir brauchen aber klare gesetzliche Regeln gegen Lohndumping und eine Ausweitung der Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte, damit die Kolleginnen und Kollegen innerhalb eines Unternehmens nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Der jeweilige Betriebsrat muss zum Beispiel die Möglichkeit zum Widerspruch haben, wenn Arbeit ausgelagert wird.

Durch Werkzeuge wie Leiharbeit versuchen Arbeitgeber, die Tarifautonomie zu unterwandern. Die steigenden Zahlen in diesem Beschäftigtensektor zeigen, dass ihnen das immer mehr gelingt. Sind Tariflöhne in der Höhe noch zeitgemäß, wenn sowieso immer weniger Menschen davon betroffen sind?

Auf jeden Fall. Tarifliche Regelungen sind nicht nur zeitgemäß, sondern auch dringend nötig. Ein reales Lohnplus gab es in den letzten zehn Jahren nur bei den Tarifeinkommen. Wir brauchen eine Stärkung der Tarifautonomie und der Tarifverträge. Die Regeln müssen endlich wieder für alle gelten. Deswegen fordern wir auch, dass Tarifverträge in Zukunft leichter allgemein verbindlich erklärt werden können.

Vor allem Frauen und die Jugend sind von diesen prekären Beschäftigungsverhältnissen betroffen. Jungen Menschen bleibt oft nichts anderes übrig, als sich von Praktikum zu Praktikum zu hangeln. Ist es zu spät, diese Situation noch zu ändern?

Es ist nie zu spät und es tut sich ja auch etwas. Wir haben die politische Debatte grundlegend gedreht. Es geht nicht mehr um den berüchtigten „Faktor Arbeit“, sondern um mehr gute Arbeit. Was allerdings noch fehlt, sind die notwendigen gesetzlichen Regeln für eine neue Ordnung der Arbeit. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und des absehbaren Fachkräftemangels muss mehr in qualifizierte Arbeit investiert werden. Und dies muss die Politik fördern.

"Tarifliche Regelungen sind nicht nur zeitgemäß, sondern auch dringend nötig. Ein reales Lohnplus gab es in den letzten zehn Jahren nur bei den Tarifeinkommen."

Die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften stagnieren seit Jahren. Haben Sie das Gefühl, dass die Gewerkschaften mit ihren Ideen bei jungen Menschen überhaupt noch ankommen?

Das ist von Branche zu Branche unterschiedlich, aber die Mitgliederzahlen zeigen, dass Gewerkschaften vor allem bei jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern attraktiv sind. Viele junge Leute finden es spannend, sich zu engagieren, weil sie gemeinsam konkret etwas verändern können, was sie selbst betrifft.

Lehrerstreik in Berlin Bildung ist Mehrwert

Warnstreiks im Öffentlichen Dienst: In Berlin fordern die angestellten Lehrkräfte unter anderem einheitliche Tarifverträge. DGB/Simone M. Neumann

In dieser Woche wollen die angestellten Lehrer ihre Lohnforderungen mit Streik unterstreichen. Damit üben die Streikenden nicht nur Druck auf die Arbeitgeberseite aus, sondern treffen auch den Normalbürger. Bringen die Gewerkschaften mit solchen Aktionen nicht genau diejenigen gegen sich auf, für die sie eigentlich kämpfen?

Der Rückhalt in der Bevölkerung ist grundsätzlich gut, denn die meisten haben ein feines Gespür dafür, dass es nicht gerecht zugeht. Wir wissen aber natürlich darum, dass es eine Belastung ist, wenn etwa die Erzieherin in der Kita streikt und die Eltern deswegen ihre Planungen umwerfen müssen. Gerade deshalb ist es wichtig, darüber aufzuklären, was das Anliegen des Streiks ist. Die Erfahrung zeigt, dass die Eltern uns oft dabei unterstützen, weil ihnen  einleuchtet, dass eine solche verantwortliche Arbeit auch angemessen bezahlt werden muss. Es gibt da eine ganze Reihe von Berufen, die sind so systematisch unterbezahlt, dass die Menschen das auch wissen. Bei angestellten Lehrern ist das zum Beispiel der Fall.

In der Region Bremen sind derzeit in den Branchen Windenergie und Hafenwirtschaft viele Menschen von Arbeitslosigkeit bedroht. Wie können Sie diesen Menschen vermitteln, dass eine Lohnsteigerung um 6,5 Prozent für den öffentlichen Dienst gerechtfertigt ist, während sie unter Umständen auf der Strecke bleiben?

Die Gewerkschaften kümmern sich ja um beides: Wir versuchen, Arbeitsplätze zu retten und anständige Löhne zu verhandeln. Das ist kein Widerspruch. Die Situation der angestellten Lehrer ist alles andere als gut und da muss sich etwas ändern. Aber wir haben immer in unterschiedlichen Branchen Tarifbewegungen. In diesem Jahr verhandeln wir für 12,5 Millionen Menschen Tarifverträge. Dabei geht es darum, angemessene Lohnerhöhungen für alle zu erreichen.

Im vergangenen Jahr haben die Gewerkschaften gesamtwirtschaftlich eine Steigerung der Löhne um etwa drei Prozent durchgesetzt. Nun sind es aktuell mehr als rund sechs Prozent. Sind diese Forderungen nicht etwas überzogen?

Auf keinen Fall. Wir haben eine durchaus stabile wirtschaftliche Entwicklung und explodierende Unternehmensgewinne. Die Beschäftigten leisten harte Arbeit  und haben einen Anspruch auf anständige Lohnerhöhungen. Gleichzeitig haben wir ein irrsinniges Auseinanderdriften zwischen der Entwicklung der oberen Einkommen und der Lohneinkommen. Die Kolleginnen und Kollegen brauchen dringend mehr Geld in der Tasche. Grundsätzlich ist der Punkt: Wir wollen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr an der Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums beteiligt werden. Und das ist bisher nicht ausreichend der Fall.

Weser-Kurier 19.02.2013. Interview: Maren Beneke


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