Deutscher Gewerkschaftsbund

21.07.2017

Tunesien: Ja, zur Sozialpartnerschaft

Jeannette Goddar und Margarete Hasel

In Tunis gehören Demonstrationen heutzutage zum Straßenbild „Die Bürger haben keine Angst mehr, sie sind mutig, äußern ihre Meinung. Das gehört zur Demokratie“, sagt Sozialminister Mohamed Trabelsi Genauso wie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Gemeinsam sitzen sie zusammen in der Berliner DGB-Bundeszentrale: Sozialminister Mohamed Trabelsi, Arbeitgebervorstand Khelil Ghariani, und der stellvertretende Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbands, Mohamed Ali Boughiri.

Demos in Tunesien

flickr-European Parliament CC BY-NC-ND 2.0

Für drei Tage sind sie in Berlin im Rahmen eines Projektes, das der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände gemeinsam gestartet haben. Partner auf tunesischer Seite sind der Gewerkschaftsdachverband Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT) mit 700 000 Mitgliedern und der Arbeitgeberverband Union Tunisienne de l’Industrie, du Commerce et de l’Artisanat (UTICA), der 150.000 ArbeitgeberInnen vertritt. Das Ziel: Stärkung des sozialen Dialogs und sozialen Friedens in Tunesien.

Perspektivlosigkeit und marode Wirtschaft

Denn auch Jahre nach dem demokratischen Aufbruch steht das Land vor massiven Problemen. Terror, Zuwachs zu islamistischen Gruppen, hohe Arbeitslosigkeit und geringes Wirtschaftswachstum sind Gründe für die Abwanderung vieler TunesierInnen nach Europa. Wegen der Perspektivlosigkeit und der maroden wirtschaftlichen Situation kommt es immer wieder kommt es zu Streiks und Demonstrationen.

Die soziale und ökonomische Übergangsphase Tunesiens sei „sehr kritisch und sehr gefährlich“ sagte Boughiri. Trabelsi begründet dies damit, dass auf ein „kolonial vorbelastetes Erbe mit großen sozialen Unterschieden“ eine Diktatur gefolgt sei und so „leben wir in einem Umfeld, das von Terror, Gewalt und Konflikten bestimmt ist. Dennoch möchten wir den Weg zu Demokratie und Gerechtigkeit unbedingt weitergehen.“

Selbstverbrennung löste die Proteste aus

Sechs Jahre ist es her, dass die Selbstverbrennung eines von Behörden schikanierten Obsthändlers in Tunesien die Proteste auslöste und Diktator Ben Ali binnen kurzer Zeit ins Exil gehen musste. Daraufhin übertrugen sich die Proteste auf andere arabische Staaten. Anders als in Ägypten – und erst recht in Syrien und dem Jemen – ist Tunesien heute nach wie vor auf dem Weg der Demokratisierung.

Nicht zuletzt dank der Sozialpartner. Nachdem die erste demokratische Regierung 2013 blutig gestürzt worden war, organisierten Gewerkschaft UGTT, der Arbeitgeberverband UTICA, ein Menschenrechtsverein und die Anwaltsvereinigung einen nationalen Dialog, der vermutlich maßgeblich zum Frieden und Demokratieprozess beitrug. Im Gespräch mit säkularen und religiösen Kräften gelang es, eine neue Verfassung zu verabschieden – wofür das Quartett 2015 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Demonstrationen startete in den Büros der UGTT

Zu verdanken, gibt Arbeitgebervertreter Ghariani zu, sei das zuerst den Gewerkschaftern. Boughiri gibt sich bescheiden, sagt aber auch, dass die UGTT als „vielleicht weltweit einzige Gewerkschaft gesamtgesellschaftliche Aufgaben übernimmt“, sowohl während des Kampfs für die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Frankreich, als auch während der tunesischen Revolution. „Fast alle Demonstrationen in den großen Städten starteten von unseren Büros.“

Das beeindruckte auch Reiner Hoffmann, der Tunis 2014 kurz nach seiner Wahl zum DGB-Vorsitzenden besuchte. Währenddessen wurde auch das Projekt zwischen BDA und DGB, UGTT und UTICA entworfen. Gesteuert wird es von 12 VertreterInnen aus den vier Organisationen; koordiniert von Peter Seideneck, der in Spitzenfunktionen beim DGB arbeitete und in den 90er-Jahren im Europäischen Gewerkschaftsbund für den Mittelmeerraum zuständig war. Heute berät er die internationale Abteilung des DGB.

„Natürlich geht bei einer so ungewöhnlichen Kooperation nicht immer alles reibungslos“, erklärt Seideneck, aber: „Wenn es gelingt, UGTT und UTICA zu stärken, können sie gemeinsam in der derzeitigen Lage viel erreichen.“

Beziehungen zwischen den Sozialpartnern im Betrieb erforscht

Die Lernprozesse sollen möglichst anschaulich sein. So erfolgte Ende April ein Besuch von UGTT- und UTICA-VertreterInnen in Metall- und Textilbetrieben in Hessen. „Das war wie eine Hospitation“, sagt Seideneck, „die tunesischen Partner haben sich in Gesprächen mit Mitarbeitern, Betriebsräten und Geschäftsführungen auf den Stand bringen lassen, wie Sozialpartnerschaft in Deutschland geht.“

In Tunesien wiederum erforschen SozialwissenschaftlerInnen in acht Betrieben die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern. „Einige deutsche Unternehmen in Tunesien haben bereits Modellprojekte, die mit großem Interesse beobachtet werden“ erzählt Seideneck. Deutschland sei ein Vorbild in Berufsausbildung und im sozialen Dialog, sagt Minister Trabelsi, „wir können hier viel lernen, um ein soziales Klima zu schaffen, das Investitionen zugutekommt und Wachstum ermöglicht.“ Und ja, es geht auch um Geld. „Wir hoffen auf mehr Investitionen“, betont Ghariani.

250 deutsche Unternehmen kamen – und blieben trotz der Proteste

Es haben sich bereits 250 deutsche Unternehmen angesiedelt, von denen kein einziges Tunesien seit den Protesten verlassen habe: „Sie halten auch in schwierigen Zeiten zu uns.“

Von Seiten der EU allerdings hat sich der tunesische Sozialminister mehr Unterstützung erhofft, für das „einzige Land, in dem der arabische Frühling tatsächlich zu einer demokratischen Wende geführt hat. Das beweist schließlich auch, dass in einem arabisch-muslimischen Land Demokratie und Menschenrechte möglich sind.“


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