Deutscher Gewerkschaftsbund

04.09.2018

Alles für die Versicherten? Das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) im Faktencheck

Mit dem am 24.Juli 2018 vorgelegten Referentenentwurf des Gesetzes für schnelle Termine und bessere Versorgung, kurz Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG), will Bundesgesundheitsminister Spahn den gesetzlich Versicherten jene Versorgungsgerechtigkeit zuteil lassen, die ihnen bisher aufgrund lange bekannter, systematischer Defizite bisher verwehrt blieb. Zahlreiche Vorschläge zu Änderungen im Leistungs- und Verbandsrecht, aber auch in Fragen der regionalen Versorgung sowie im Kontext der Digitalisierung haben Eingang in den Entwurf gefunden. Während es von Seiten der Ärzteverbände daraufhin heftige Kritik hagelt, gerät in der öffentlichen Berichterstattung leicht aus dem Blick, dass Ärzte und die KBV sich angesichts des Entwurfs vermutlich die Hände reiben dürften. Ob die Versicherten von echten Verbesserungen profitieren können, bleibt hingegen abzuwarten.

Patient reicht Arzthelferin eine Krankassenkarte

DGB/racorn/123rf.com

Bei der Verbändeanhörung zum Referentenentwurf des Terminservice- und Versorgungsgesetzes am 22. August hätte man leicht zu dem Schluss gelangen können, dass der Untergang des sozialpolitischen Abendlandes erneut bevor steht. Erst kürzlich hatte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) bei der Vorstellung des Referentenentwurfs des GKV-Versichertenentlastungsgesetzes angesichts dieser „größten sozialpolitischen Sünde“ der Bundesregierung drastische Töne angeschlagen. Das nun mit überschaubarem zeitlichen Abstand vorgelegte Terminservice- und Versorgungsgesetz scheint prompt ähnliche Angstreflexe auszulösen, diesmal allerdings vonseiten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und zahlreicher Ärzte. Wahlweise wird dem Bundesministerium für Gesundheit angesichts der vorgesehen Regelungsinhalte des TSVG wahlweise ein dirigistischer Eingriff in die ambulante Versorgung [1] oder auch gleich eine völlige Praxis- und Realitätsferne vorgeworfen.[2] Ist in der Regierungskoalition also eine sozialpolitische Revolutionsstimmung ausgebrochen, mit der sowohl die Versicherten reich beschenkt als auch die staatlichen Regelungsambitionen ins Maßlose ausgedehnt werden?

Mehr Leistung, mehr Vergütung?

Objektive Gründe für eine solche Interpretation lassen sich mit Blick auf die tatsächlichen Regelungsinhalte des TSVG- Gesetzesentwurfs eher nicht ausmachen. Der medial befeuerte Aufruhr entzündet sich im Wesentlichen an einem einzelnen Ansatz – und damit dieser nicht übermäßig weh tut, hat der Gesetzgeber auch gleich einen üppigen Ausgleich ersonnen. Im Kern des Entwurfs steht das Vorhaben, den gesetzlich Versicherten künftig einen schnelleren und leichteren Zugang zu ambulanten ärztlichen Terminen zu verschaffen- ein löblicher Ansatz, der zudem auf eine tatsächliche Notwendigkeit reagiert. Künftig sollen von Arztpraxen mindestens 25 Stunden pro Woche inklusive Hausbesuchszeiten als Sprechstunden angeboten werden, wobei in der unmittelbaren und wohnortnahen Versorgung mindestens 5 Stunden als offene Sprechstunde zur Verfügung stehen sollen. Der Knackpunkt daran ist, dass ein solches Angebot von mehr ärztlichen Sprechstunden keine Zusatzleistung darstellt, sondern als Ergebnis ärztlicher Organisation und Planung zustande kommt, wie auch das Bundesministerium für Gesundheit immer wieder bemüht ist, zu wiederholen. Schließlich zählt die Sicherstellung der zeitnahen Gesundheitsversorgung der Versicherten zu den eigentlichen Kernaufgaben ambulanter Versorgung, weshalb den Arztpraxen jährlich auch bereits 37 Milliarden Euro pro Jahr – oder 380.000 Euro pro Arztpraxis-  durch die gesetzlichen Krankenkassen zur bezahlt werden. Andererseits soll ihnen nun jedoch eine „extrabudgetäre Vergütung“ in Höhe von zusätzlich ca. 600 Mio. Euro pro Jahr in Aussicht gestellt, um diese geforderten zusätzlichen Sprechstunden anzubieten. An diesem Vorhaben üben sowohl der DGB als auch der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen scharfe Kritik, denn das bedeutet nichts anderes, als zusätzliche Beiträge der Versicherten für etwas einsetzen zu wollen, was durch das Kerngeschäft abgedeckt sein muss. Geld kann und darf nicht als funktionaler Anreiz dienen, den Verfügbarkeitswillen über zeitliche Ressourcen für die Versorgung der Versicherten zu erhöhen- dies muss eine inklusive und gesicherte Leistung sein.

Schreibtisch mit Stethoskop und Kladde, Hände und Arm Ärztin nah

DGB/morganka/123rf.com

Auch die zahlreichen weiteren Regelungsinhalten des TSVG bieten bei Licht besehen keinen Anlass für ärzteseitiges Kopfzerbrechen: die flächendeckende Versorgung soll auch in ländlichen und strukturschwachen Gebieten gestärkt werden, weshalb für die Planung ambulanter Eigeneinrichtungen der Kassenärztlichen Vereinigungen künftig nur eine reduzierte Mitwirkung der gesetzlichen Krankenkassen vorgesehen ist. Wirklich neue und angesichts allzu oft renditeorientierter Prinzipien zur Ausgestaltung von Versorgungsstrukturen auch notwendiger Impulse wie zb. die Möglichkeit, dass auch Krankenkassen wieder Eigeneinrichtungen gründen und betreiben dürfen, vermisst man im TSVG- Entwurf hingegen schmerzlich. Die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen sollen ausgebaut und ihre beabsichtigte Rolle als zentrale Anlaufstelle für eine schnelle Terminvergabe weiter gestärkt werden, was keine grundsätzlich falsche Idee ist, sofern das Existieren dieser Institution irgendwann einmal größeren Bevölkerungsteilen bekannt gemacht werden sollte.

Licht und Schatten für die Versicherten

Die Versicherten dürfte hingegen tatsächlich freuen, dass eine Erhöhung der Festzuschüsse für Zahnersatz sowie die Erhöhung der Boni bei Vorliegen eines vollständigen Bonushefts ebenfalls vorgesehen ist. Ebenso sollen Versicherte mit erhöhtem HIV- Infektionsrisiko einen Anspruch auf ärztliche Beratung und umfassende Präexpositionsprophylaxe erhalten; auch sollen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen künftig auf elektronischem Wege durch die Ärzte an die Krankenkassen übermittelt werden, sodass die Beschäftigten von dieser Obliegenheit befreit werden. Derartig sinnvolle Vorschläge werden jedoch kontrastiert durch einige in den Tiefen des Referentenentwurfs verborgene Vorschläge mit zum Teil schwerwiegenden Implikationen: so sollen zum einen die Krankengeldansprüche von Teilrentenbeziehern, die zusätzlich ein Erwerbseinkommen haben, künftig gedeckelt werden. Wenn es im Kontext dieses Referentenentwurfs zu einem Aufschrei kommen sollte, dann vornehmlich angesichts dieses Vorschlags. Nachdem über das Flexirentengesetz der Teilerwerbstätigkeit bis ins hohe Alter der Weg geebnet und das Bild des arbeitenden Rentners in der öffentlichen Wahrnehmung verankert wurde, ist die soziale Absicherung dieser wachsenden Personengruppe offenbar verschlafen worden. Statt dieses Defizit nun zu beheben, soll es jedoch festgeschrieben werden- was mit Blick auf die Bedeutung von Hinzuverdiensten zum Rentenbezug einen sozialpolitischer Frevel darstellt. Zum anderen sollen Sozialdaten der Versicherten künftig durch Krankenkassen in elektronischer Form an benannte Dritte übermittelt werden dürfen. Was sich zunächst harmlos anhört, birgt für die Versicherten ein Risiko, denn dies ermöglicht es den Versicherten theoretisch auch, ihre Daten beispielsweise auf Verlangen oder im Kontext von Bewerbungsgesprächen künftigen oder aktuellen Arbeitgebern zugänglich zu machen. Damit könnten Risiken hinsichtlich der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder etwaige Ausfälle der Arbeitskraft systematisiert erfasst und bewertet werden, was für Beschäftigte einen grundlegenden Nachteil bedeutet und zudem einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte darstellen würde. Der DGB fordert, dass diese gravierenden Lücken im nun anstehenden Regierungsentwurf des TSVG beseitigt werden.

In der Gesamtschau ist man fast geneigt, der Einschätzung der KBV zuzustimmen, dass das geplante Gesetz „ein bisschen Licht und viel Schatten“[3] birgt – nur eben bei völlig entgegengesetzter Sichtweise : ein echter Nutzen für die Versicherten kann aus den enthaltenen Regelungsvorschlägen zwar entstehen. Dies wird allerdings maßgeblich von der Wirksamkeit der Sprechstundenausweitung, der Operationalisierung der Terminservicestellen und der Änderung jener Vorschläge, die bisher eindeutig zu Lasten der Versicherten gehen, abhängen. Hingegen bedeuten die nicht zu rechtfertigenden zusätzlichen 600 Mio. Euro für den Bereich der extrabudgetären Vergütung und fortgesetzte Ausbau der KBV- Kompetenzen zur Gründung medizinischer Eigeneinrichtungen sowohl einen tiefen Griff ins Säckel der Versicherten als auch eine weitere Betonung des Renditeprinzips in der ambulanten Versorgung, und angesichts solcher Vorschläge ist entgegen mancher Befürchtungen beim besten Willen keine sozialpolitische Revolutionsneigung im Regierungsverhalten zu erkennen. Für den DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften ist klar, dass eine Verbesserung der Situation der Versicherten im Titel eines Gesetzesentwurfs auch entsprechende Inhalte erfordert – und hier ist das Bundesministerium für Gesundheit eindeutig noch in der Bringschuld.


[1] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/97266/KBV-kritisiert-dirigistischen-Ansatz-der-Politik-beim-Terminservice-und-Versorgungsgesetz

[2] https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/berufspolitik/article/968681/terminservice-versorgungsgesetz-aerzte-sehen-licht-schatten-spahns-gesetz.html

[3] https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/berufspolitik/article/968681/terminservice-versorgungsgesetz-aerzte-sehen-licht-schatten-spahns-gesetz.html


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