Deutscher Gewerkschaftsbund

25.08.2011
Interview

Rentenversicherung: Kampf gegen Altersarmut hat Vorrang

Die Überschüsse der Rentenversicherung sollten vorrangig für eine Offensive gegen Armut im Alter genutzt werden. „Es macht zwar Sinn, Beiträge anzuheben, wenn die Kasse leer ist, aber andersherum ist der Automatismus angesichts der Probleme nicht sinnvoll“, sagte DGB-Vorstand Annelie Buntenbach im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ).

Neue Osnabrücker Zeitung: Frau Buntenbach, Bundesministerin von der Leyen plant nach der Sommerpause einen Rentendialog. Wo brennt es?

Annelie Buntenbach: Es gibt gravierende Probleme. Wir haben einen ausufernden Niedriglohnbereich, in dem die Menschen von ihrer Arbeit kaum leben können, wo sie nur geringe  Ansprüche in der Rente aufbauen und auch so gut wie nichts auf die Seite legen können. Zudem hat es in den letzten Jahren massive Rentenkürzungen gegeben, die die Rentenansprüche um bis zu 25 Prozent schmälern. Wenn die Politik nicht gegensteuert, werden sich diese beiden Entwicklungen so treffen, dass Millionen von Menschen in Altersarmut zu rutschen drohen.

25 Prozent Rentenschmälerung in welchem Zeitraum?

Das sind die Entscheidungen in den letzten 10 Jahren, vor allem die Auswirkungen der Kürzungsfaktoren: Riestertreppe, Nachhaltigkeitsfaktor, Nachholfaktor.  Bemerkbar macht sich aber auch die Streichung von Ausbildungszeiten  und ähnliches mehr. Das ergibt in der Summe bei den Renten, die die Menschen später erwarten können, eine Kürzung von bis zu 25 Prozent. Und jetzt kommt die Rente mit 67 dazu, die die Lage noch verschärft.

Aufgrund der guten Konjunktur steigen die Reserven in der Rentenkasse. Die Arbeitgeber fordern, die Beitragssätze von derzeit 19, 9 Prozent  auf zunächst 19,6 dann 19,1 Prozent zu senken. Sind Sie damit einverstanden?

Oberste Priorität hat die Bekämpfung von Altersarmut, und die gibt es nicht zum Nulltarif.. Die rechtliche Situation ist ja so, dass der Beitrag automatisch gesenkt wird, wenn die  Nachhaltigkeitsrücklage bei der Rentenversicherung  anderthalb Monatsauszahlungen überschreitet. Wenn jetzt neue Spielräume entstehen, dann muss man als erstes entscheiden, welche Maßnahmen gegen Altersarmut getroffen werden und wie die jeweils zu finanzieren sind - aus Steuermitteln oder aus Beitragsmitteln - , und erst dann kann man darüber reden, was man mit dem anderen Teil der Reserven macht.

Sie plädieren dafür, den Anpassungsautomatismus aufzuheben?

Ja. Es macht zwar Sinn, Beiträge anzuheben, wenn die Kasse leer ist, aber andersherum ist der Automatismus angesichts der Probleme, vor denen wir stehen, nicht sinnvoll.

"Wenn jetzt neue Spielräume entstehen, dann muss man als erstes entscheiden, welche Maßnahmen gegen Altersarmut getroffen werden. Erst dann kann man darüber reden, was man mit dem anderen Teil der Reserven macht."

Seit Neuem wird auch wieder verstärkt über die gesetzliche Mindestrente diskutiert. Ein Vorschlag, den Sie unterstützen?

Wichtig ist: Menschen, die jahrzehntelang in die Rentenversicherung eingezahlt haben, müssen eine Rente bekommen, von der sie in Würde leben können, auch wenn sie eine Reihe von Jahren schlecht verdient haben oder auch mal arbeitslos waren. Die Rente nach Mindesteinkommen gibt es schon im Gesetz, allerdings gilt sie nur für die Zeit bis 1992. Sie bedeutet, dass niedrige Verdienste in bestimmten Fällen beim Renteneintritt hoch gewertet werden. Damit soll vermieden werden, dass diese Menschen in die Bedürftigkeitsprüfung abrutschen und Grundsicherung beantragen müssen.  Nach 1992 ist dieser Mechanismus leider ausgesetzt worden.  Das muss sofort rückgängig gemacht werden.

Problematisch ist oft auch die Höhe der Erwerbsminderungsrenten. Diese Leistungen sind von 817 Euro im Jahr 2000 auf 672 Euro durchschnittlich im Jahr 2009 gesunken.

Hier muss dringend etwas geschehen. Die Zahl erwerbsgeminderter Rentner, die auf Grundsicherung  angewiesen sind, ist auf knapp 365.000 angestiegen. Das einfachste und wirkungsvollste wäre, die  im Jahr 2001 eingeführten Abschläge abzuschaffen. Damit würden dann die Erwerbsminderungsrenten im Durchschnitt um zehn Prozent zulegen.

"Es darf nicht dabei bleiben, dass Tausende von Menschen, die mehrere gesundheitliche Einschränkungen haben, beim Antrag auf Erwerbsminderungsrente leer ausgehen, weil das Verfahren zu kompliziert ist."

Welche Möglichkeiten gibt es noch?

Die Zurechnungszeiten sollten verbessert werden.  Im Moment wird man bei einem Antrag auf Erwerbsminderungsrente immer so gestellt, als hätte man bis 60 weitergearbeitet. Da besteht schon jetzt eine Lücke gegenüber dem gesetzlichen Renteneintrittsalter von fünf Jahren. Dementsprechend fehlen dann auch Beitragspunkte. Deswegen fordern wir, dass die Zurechnungszeiten verlängert werden, und zwar um mindestens zwei Jahre, und das in einem Schritt. Das würde die Erwerbsminderungsrente im Durchschnitt um fast 50 Euro verbessern. Gleichzeitig müssen die Zurechnungszeiten auch höher bewertet werden.  Außerdem kann es nicht dabei bleiben, dass Tausende von Menschen, die mehrere gesundheitliche Einschränkungen haben, beim Antrag auf Erwerbsminderungsrente leer ausgehen, weil das Verfahren zu kompliziert ist.

All das werden Themen beim geplanten Rentendialog mit der Bundesregierung?

Wir werden es zum Thema machen und wir erwarten Ergebnisse. Außerdem werden wir über die Reha-Budgets reden müssen. Es ist dringend nötig, dass mehr Mittel für Rehabilitation bereitgestellt werden.

Was stellen Sie sich das im Detail vor?

Das Reha-Budget ist bislang gedeckelt und reicht nicht aus. Die Anträge müssen von der Rentenversicherung immer strenger beurteilt werden, weil das Budget so knapp ist. Das kann nicht so bleiben, denn wir wollen, dass die Beschäftigten die Chance bekommen, länger gesund in Lohn und Brot bleiben zu können. Die demographische Entwicklung sollte bei der Definition des Reha-Budgets berücksichtigt werden. Eine solche Demographie-Vorsorge-Komponente bei der Reha ist nötig, um chronische Erkrankungen zu vermeiden. Das sind sinnvolle Investitionen, die persönliches Leid vermeiden, und außerdem am Ende auch noch richtig Geld sparen.

Interview: Uwe Westdörp

Neue Osnabrücker Zeitung, 24. August 2011


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