Die EU-Kommission hat eine Rahmen-Richtlinie für angemessene Mindestlöhne in den Mitgliedstaaten vorgeschlagen. Auch wenn immer wieder Zweifel geschürt werden, verfügt die EU über die notwendigen Kompetenzen, eine solche Richtlinie zu verabschieden. Ein Gutachten im Auftrag des DGB bestätigt dies – wir fassen die wichtigsten Erkenntnisse des Gutachtens zusammen.
Bereits 2019, in ihrer Antrittsrede vor dem Europäischen Parlament, hatte Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt, sie wolle „einen Rechtsrahmen vorlegen, der sicherstellt, dass jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer in unserer Union einen gerechten Mindestlohn erhält.“ Mit ihrem Vorschlag einer „Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU“ ist die Europäische Kommission diesem Versprechen nun nachgekommen.
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Susanne Wixforth und Lukas Hochscheidt (beide DGB)
Die Idee dahinter ist nicht trivial: Es geht der Kommission mitnichten darum, einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn für die gesamte EU festzusetzen. Vielmehr will sie gemeinsame Mindestanforderungen formulieren, die die Mitgliedstaaten bei der Festlegung ihrer nationalen Mindestlöhne erfüllen müssen. Um damit nicht in die Tarifautonomie und die sozialpartnerschaftliche Lohnfindung einzugreifen, hat die Richtlinie auch zum Ziel, tarifvertraglich vereinbarte Mindestlöhne zu schützen und zu fördern. Letzteres ist angesichts der seit Jahren sinkenden Tarifbindung in Europa besonders wichtig.
Ist die EU zuständig?
Über diesen Richtlinienvorschlag ist eine hitzige Debatte entbrannt – nicht wegen der Förderung von Tarifverträgen, sondern aufgrund der geplanten Festsetzung von Untergrenzen für die Bemessung gesetzlicher Mindestlöhne in den Mitgliedstaaten. Die Gegner*innen des Vorstoßes werfen der Kommission vor, dass die EU nicht über die nötigen Kompetenzen verfüge, um einen bindenden Rahmen für die Bemessung von Mindestlöhnen in den Mitgliedstaaten zu erlassen.
Mit Verweis auf Art. 153 (5) des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV), der die „direkte Lohnfestsetzung“ dezidiert aus dem Kompetenzbereich der EU ausnimmt, behaupten Kritiker*innen, dass der Mindestlohnrahmen nicht mit den Europäischen Verträgen vereinbar sei: Die EU sei weder kompetent noch zuständig. Dass dem nicht so ist, wollen wir im Folgenden zeigen.
Wieso ein Mindestlohnrahmen in der Kompetenz der EU liegt
Als Rechtsgrundlage für ihren Vorschlag beruft sich die Europäische Kommission auf Art. 153 (1) (b) AEUV, der der EU eine unterstützende und ergänzende Rolle bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen in den Mitgliedstaaten verleiht. Wie bei allen Bereichen, in denen die EU unterstützend tätig werden kann, müssen die getroffenen Maßnahmen zwei Kriterien erfüllen: Sie müssen subsidiär sein, dürfen also nicht in die Aufgaben eingreifen, die die Mitgliedstaaten auch ohne die EU erledigen können; und sie müssen verhältnismäßig sein, das heißt so wenig wie möglich und so viel wie nötig in die Politik der Mitgliedstaaten eingreifen.
Der Mindestlohnrahmen erfüllt beide Kriterien: Er ist subsidiär, weil die Mitgliedstaaten weiterhin für die konkrete Festsetzung und Ausgestaltung ihrer Mindestlöhne zuständig sind. Und er ist verhältnismäßig, da derzeit nicht alle Lohnuntergrenzen in den Mitgliedstaaten existenzsichernd sind und der Binnenmarkt ein „level playing field“, also faire Wettbewerbsbedingungen, auch in Lohnfragen erfordert. Europäisches Handeln ist hier angesichts der Ziele der EU also nötig und zielführend.
Das von den Gegner*innen der Maßnahme ins Feld geführte „Spannungsverhältnis“ zwischen Art. 153 (1) (b) AEUV und Art. 153 (5) AEUV ist kein Hinderungsgrund für den Vorschlag der Kommission. Denn es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb die fehlende EU-Kompetenz für die „direkte Lohnfestsetzung“ (wie in Art. 153 (5) AEUV festgeschrieben) einer Rahmenrichtlinie für angemessene Mindestlöhne durch die EU nicht im Wege steht:
Fazit
Blickt man auf die Europäischen Verträge, das bestehende Sekundärrecht und die Rechtsprechung des EuGH, so spricht nichts gegen die Einführung eines Rahmens für angemessene Mindestlöhne auf Grundlage von Art. 153 (1) (b). Eine solche Rahmenrichtlinie trägt zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzungen bei, fördert die Sicherung existenzsichernder Löhne und wirkt der Diskriminierung prekär beschäftigter Gruppen entgegen. Darüber hinaus fördert sie die Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern (Art. 157 (1) AEUV), gleicht die nach wie vor beträchtlichen Unterschiede im Lohnniveau auf dem Binnenmarkt an und macht diesen damit für die Unternehmen fairer und die Beschäftigten sozialer.
Das vom Deutschen Gewerkschaftsbund in Auftrag gegebene Gutachten zur Statthaftigkeit eines EU-Rechtsrahmens für gesetzliche Mindestlöhne, auf dem dieser Beitrag basiert, finden Sie in voller Länge hier.