Deutscher Gewerkschaftsbund

02.06.2023

Streiks in Deutschland - so normal wie unverzichtbar

einblick Juni 2023

Streiktechnisch war es ein heißer Frühling – die Beschäftigten bei Post, Bahn und im öffentlichen Dienst mussten in ihren Tarifrunden mit Warnstreiks und Streiks ihren Forderungen Nachdruck verleihen. Heiner Dribbusch analysiert im einblick die Erkenntnisse der WSI- Arbeitskampfbilanz.

Rückenseite einer orangenen Warnweste mit der Aufschrift "Wir streiken"

DGB

Die Tarifauseinandersetzungen bei Post, Bahn und im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen rückten einmal mehr das Thema Streik in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Mehrere Warnstreiks bei der Deutschen Post führten im Januar und Anfang Februar zu Ausfällen und Verzögerungen in der Postzustellung. Am 17. Februar brachte ein ganztägiger Streiktag von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sowie der Bodenverkehrsdienste und der Flughafensicherheit nahezu den gesamten Flugverkehr zum Erliegen. Am 3. März rief ver.di dann in sechs Bundesländern im kommunalen Nahverkehr zu Warnstreiks auf, während parallel Fridays for Future an rund 200 Orten in Deutschland Demonstrationen für eine Verkehrswende organisierte – ein aufmerksam registriertes Zeichen der Zusammenarbeit von Gewerkschaft und Klimaschützer*innen. Am 8. März, dem internationalen Frauentag, legten mehrere zehntausend Frauen, vor allem aus dem Sozial- und Erziehungsdienst sowie verschiedenen Kliniken, die Arbeit nieder.

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Der vorläufige Höhepunkt war dann ein gemeinsamer 24-stündiger Verkehrsstreik von EVG und ver.di am 27. März, in den neben dem Bahnverkehr erneut die Flughäfen, der kommunale Nahverkehr, aber auch Wasserstraßen einbezogen waren. Während in den Medien teilweise von Generalstreik oder französischen Verhältnissen geredet wurde, blieben die meisten Beschäftigten freilich gelassen. Das prognostizierte Verkehrschaos blieb aus und die Unterstützung der Bevölkerung stabil. 71 Prozent der Befragten hatten laut ZDF-Politbarometer vom 31. März auch danach noch Verständnis für die Streiks im öffentlichen Dienst. Dass sich allein bei ver.di im ersten Vierteljahr rund 80.000 Beschäftigte für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft entschieden, kann ebenfalls als Unterstützung der gewerkschaftlichen Positionen gewertet werden.

Heiner Dribbusch, gelernter Schreiner und Sozialwissenschaftler, war bis zu seinem Ruhestand Ende 2019 als Wissenschaftler am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung tätig und ist bis heute an der jährlichen WSI-Arbeitskampfbilanz beteiligt.

Streiks sind in der deutschen Tariflandschaft zwar kein alltägliches, aber doch ein normales Instrument der Konfliktregulierung. Aus Sicht der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften ist die Fähigkeit zu streiken unverzichtbar, wollen sie nicht zu bloßen Bittstellern werden. Zugleich gibt es bei Arbeitskämpfen immer mindestens zwei Parteien. Ob und wie Tarifauseinandersetzungen eskalieren, liegt nicht zuletzt auch an Unternehmen und Arbeitgeberverbänden. Im öffentlichen Dienst kommt hierbei auch der Staat mit ins Spiel – als Tarifpartei, aber auch als Gesetzgeber. Wenn eine staatliche Gesundheitspolitik über Jahre hinweg Kliniken unter Sparzwänge setzt, die zu Rationalisierungen auf Kosten der Gesundheit von Beschäftigten und Patient*innen führen, ist es eher verwunderlich, dass es so lange gedauert hat, bis auch hier Beschäftigte und ihre Gewerkschaften die Reißleine zogen und für Entlastung streikten.

Die WSI- Arbeitskampfbilanz 2022 verzeichnet für das abgelaufene Jahr 225 Arbeitskämpfe, d.h. 225 Tarifauseinandersetzungen, in deren Verlauf es zumindest eine Arbeitsniederlegung gab. Angesichts von allein 1.404 Vergütungstarifverträgen, die das Tarifregister des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales 2022 neu registrierte, zeigt sich, dass nur ein kleiner Teil der Tarifverhandlungen zum Arbeitskampf eskalierte. Mit geschätzten 674.000 Ausfalltagen lag das Arbeitskampfvolumen 2022 in etwa im Durchschnitt der letzten zehn Jahre.

Die weitaus meisten Arbeitskämpfe fanden 2022 wie in den vorangegangen Jahren im Bereich von Haus- und Firmentarifauseinandersetzungen statt. Dies ist das Ergebnis einer Zersplitterung des Tarifsystems, die dadurch befördert wird, dass sich Unternehmen immer wieder aus Flächentarifverträgen zurückziehen oder erst gar keine Tarifbindung eingehen wollen. Flächenauseinandersetzungen sind selten, haben aber auf Grund ihrer Größe, wie z. B. die Warnstreiks in der Metall- und Elektroindustrie vom Herbst letzten Jahres, entscheidenden Einfluss auf das jährliche Arbeitskampfvolumen.

Parallel zu den Streikzahlen veröffentlichte das WSI auch aktuelle Daten zur Streikerfahrung von Beschäftigten, die zwischen Ende November und Anfang Dezember 2022 im Rahmen der Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung ermittelt wurden. 17 Prozent der befragten abhängig Beschäftigten gaben an, schon einmal im Verlaufe ihres Berufslebens an einer Arbeitsniederlegung teilgenommen zu haben. Es ist diese Minderheit, die Schrittmacher für Verbesserungen in den Arbeitsbedingungen wie längere Urlaubsansprüche, kürzere Arbeitszeiten oder höhere Entgelte ist. Wenig überraschend liegt der Anteil der Beschäftigten mit Streikerfahrung unter den Gewerkschaftsmitgliedern mit 49 Prozent wesentlich über dem der Nichtmitglieder mit lediglich 11 Prozent.

Im internationalen Vergleich der zurückliegenden Jahre liegt das Arbeitskampfvolumen in Deutschland gemessen an Ausfalltagen pro 1.000 Beschäftigte lediglich im Mittelfeld. Dabei ist zu berücksichtigen, dass anders als in Deutschland die Rechtslage in verschiedenen Ländern, wie z. B. Frankreich, auch Streiks gegen Gesetzesvorhaben gestattet, die sich wie etwa die Verlängerung des Renteneintrittsalters negativ auf die Beschäftigten auswirken. Zugleich ist dieser mittlere „Tabellenplatz“ für die Wahrnehmung von Streiks in Deutschland jedoch von untergeordneter Bedeutung. Dass Streiks im Bahn-, Bus und Flugverkehr oder in Krankenhäusern und Kindertagesstätten anders wahrgenommen werden als solche in der Industrie, ist dabei keine deutsche Besonderheit. Dass arbeitgebernahe Vereinigungen wie z. B. die Mittelstands- und Wirtschaftsunion der CDU/CSU immer einmal wieder nach einer Verschärfung des Streikrechts rufen, auch nicht. Die betreffenden Gewerkschaften zeigen sich von solchen Forderungen unbeeindruckt, zumal diese, soweit erkennbar, keine relevante Unterstützung in der Bevölkerung finden. Ohne das Recht auf Streik, das stellte schon 1980 das Bundesarbeitsgericht fest, wären Tarifverhandlungen nichts anderes als kollektives Betteln. Und kollektives Betteln passt nicht in eine Zeit sich verschärfender sozialer Ungleichheit.


 

WSI-Arbeitskampfbilanz 2022

Heiner Dribbusch/Marlena Sophie Luth/Thorsten Schulten: WSI-Arbeitskampfbilanz 2022. Streiks als normales Instrument der Konfliktregulierung bei Tarifauseinandersetzungen, WSI-Report Nr. 83, Düsseldorf, April 2023, Download: WSI-Arbeitskampfbilanz 2022 - Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung

Buchtipp

Im Sommer erscheint von Heiner Dribbusch eine Gesamtdarstellung des Arbeitskampfgeschehens der letzten 20 Jahre:
Streik. Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 - Daten, Ereignisse, Analysen. VSA: Verlag.

 


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