Deutscher Gewerkschaftsbund

26.11.2019

Hartz IV-Urteil: Watsche für den Gesetzgeber

einblick Dezember 2019

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz IV-Sanktionen ist nichts Geringeres als eine Watsche für den Gesetzgeber, schreibt DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Dieser steht nun in der Pflicht.

Holzmännchen muss jeden Cent zweimal umdrehen

DGB/Marcus Strobel/123RF.com

Die bisher geltenden Kürzungen von mehr als 30 Prozent des Regelbedarfs sind verfassungswidrig. Damit hat das Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) bestätigt, was die Gewerkschaften schon lange sagen: In das Existenzminimum einzugreifen, ist eine außergewöhnliche Härte. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers sicherzustellen, dass in jedem Fall die Menschenwürde gewahrt bleibt.

Erstes Ziel muss sein, dass Menschen erst gar nicht in das Hartz IV-System abrutschen.

Bislang galt: Wer seine Mitwirkungspflichten verletzt hat, dem wurde der Regelbedarf um 30 Prozent gekürzt. Ein weiterer Verstoß beispielsweise gegen die Eingliederungsvereinbarung zwischen Jobcenter und Arbeitsuchendem führte zu 60 Prozent Minderung. Nach dem dritten Mal wurden den Betroffenen die Leistungen komplett gestrichen. Für viele hat dieses ansteigende Anziehen der Daumenschrauben bedeutet, sich alltägliche Bedarfe – Lebensmittel, Medikamente, Strom, Miete, Heizung – nicht mehr leisten zu können. Nicht nur, dass alle im Haushalt lebenden Menschen, auch Kinder, von den Sanktionen direkt betroffen waren. Im schlimmsten Falle konnten so hohe Sanktionen für eine Familie in Obdachlosigkeit, Verschuldung und sozialer Isolation enden.

Portrait Annelie Buntenbach

DGB/Joanna Kosowska

Annelie Buntenbach, 64, ist DGB-Vorstandsmitglied und unter anderem zuständig für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.

Die Betroffenen müssen vor der Minderung mündlich angehört werden

Das BVerfG hat daher entschieden: Die Minderung darf höchstens 30 Prozent betragen und die Betroffenen müssen vor der Minderung mündlich angehört werden. Erst dann darf eine Entscheidung gefällt werden, ob, über welchen Zeitraum und in welcher Höhe eine mindernde Sanktion in Betracht kommt. Die Jobcenter müssen dabei einzelfallbezogene Entscheidungen treffen. Die Betroffenen müssen zusätzlich die Möglichkeit haben, den Zeitraum der Minderung durch nachgeholte Mitwirkung zu verkürzen. Wer noch einen Bescheid mit mehr als 30 Prozent Minderung im Widerspruchs- oder Klageverfahren hat, kann aufatmen. Diese Bescheide müssen sofort zurückgenommen werden.

Das gesamte Sanktionssystem muss auf den Prüfstand.

Die Koalition muss das Gesetz jetzt so schnell wie möglich ändern. Die Gewerkschaften fordern, dies zum Anlass zu nehmen, das gesamte Sanktionssystem auf den Prüfstand zu stellen. Denn das Bundesverfassungsgericht macht mit dem Urteil nur eine Mindestvorgabe, es definiert eine untere Grenze des Möglichen. Das heißt immer, dass die Politik bessere Lösungen finden kann. Nicht alles, was unsere Verfassung gerade noch zulässt, ist auch im Interesse von Arbeitsuchenden und Beschäftigten. Und längst nicht alles, was gut und richtig ist – wie beispielsweise der Mindestlohn – ergibt sich aus der Verfassung.

Die Politik konnte nicht nachweisen, dass Sanktionen wirken

Ernst nehmen sollte der Gesetzgeber auch das große Fragezeichen, das das Gericht mit Blick auf den beabsichtigten Zweck der Sanktionen gesetzt hat. Bislang, so die Richterinnen und Richter, konnte die Politik nämlich nicht nachweisen, dass Arbeitsuchende durch die Sanktionen schneller wieder in einen neuen Job kommen. Obwohl es Hartz IV seit fast 15 Jahren gibt, konnte die Regierung keine Untersuchungen vorlegen, die das belegen. Das wirft ein Schlaglicht darauf, dass sich der Gesetzgeber neben der Frage des Wegfalls von Sanktionen dringend Gedanken über einen besseren Schutz und angemessene Förderung arbeitsloser Menschen machen muss.

Hartz IV: Recht auf Weiterbildung festschreiben

Erstes Ziel muss sein, dass Menschen gar nicht in das Hartz IV-System abrutschen. Wer lange in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, sollte länger Arbeitslosengeld I bekommen – wir schlagen einen zusätzlichen Monat für je zwei Beschäftigungsjahre vor. Wer sich in dieser Zeit weiterqualifiziert, soll einen weiteren Bonus bekommen. Für alle in Hartz IV muss es ein Recht auf Weiterbildung geben, denn im Moment ist beruflicher Aufstieg in dem System nahezu unmöglich. Wer sich weiterbilden oder sogar einen Berufsabschluss nachholen will, findet bei den Jobcentern nicht die entsprechenden Angebote. 2018 konnten deshalb nur 3,3 Prozent der Hartz-IV-Empfänger an einer beruflichen Weiterbildung teilnehmen, bei der abschlussbezogenen Weiterbildung lag der Anteil sogar bei nur 1,4 Prozent.

Dabei könnten passgenaue Angebote gerade richtig helfen, einen Weg aus der Falle Langzeitarbeitslosigkeit zu finden. Außerdem müssen die auf Kante genähten Regelbedarfe erhöht werden. Die Gewerkschaften schlagen vor, eine Sachverständigenkommission einzusetzen, die auf den Prüfstand stellt, wie die Regelbedarfe aussehen, was dazu gehört und wie bemessen wird – und die regelmäßig angepasste Vorschläge zur Fortentwicklung der Regelbedarfe macht. Das alles stünde im Zeichen einer Erneuerung des sozialen Sicherungsversprechens. Es wäre ein echter Beitrag für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.


Sicheres Existenzminimum

Ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen fordert die bestehenden Sanktionsregelungen im Hartz-IV-System aufzuheben. „An Stelle der geltenden Sanktionsregelungen ist ein menschenwürdiges System der Förderung und Unterstützung nötig“, heißt es in einem gemeinsamen Papier.

Die UnterzeichnerInnen betonen: „Das menschenwürdige Existenzminimum ist ein allgemeines Menschenrecht. Es ist durch das deutsche Grundgesetz geschützt und vom Staat zu gewährleisten.“ Sanktionen in der Grundsicherung kürzten das Lebensnotwendige und machten soziale Teilhabe unmöglich. Diese können alle Menschen in der Grundsicherung treffen. Von Sanktionen sind jedes Jahr 8 Prozent der Leistungsberechtigten betroffen.

Das Bündnis fordert: „Es darf keine Kürzungen am Existenzminimum geben! Sanktionen verstoßen gegen die Würde der Leistungsberechtigten. Sie bestrafen und drohen, wo Respekt, Hilfe und Unterstützung notwendig sind.“ Weiter heißt es: „Sanktionen haben negative soziale Folgen. Sie schaden der sozialen und beruflichen Eingliederung.“ Die Folgen seien Verschuldung, soziale Isolierung, massive gesundheitliche und psychische Belastungen bis hin zu drohender Wohnungslosigkeit. Der Kontakt zum Jobcenter wird teilweise abgebrochen; das Hilfesystem erreicht die Betroffenen nicht mehr.

www.dgb.de/-/Sr1

 


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