In Berlin-Wedding – vorbei an arabischen Restaurants, einem türkischen Brautmodegeschäft, Stadtteilinitiativen, Kinder- und Jugendtreffs gelangt man zu den Regionalen Diensten (RSD) im Jugendamt Berlin Mitte. Dort hat Kerstin Kubisch-Piesk ihr Büro. Seit 26 Jahren arbeitet sie mit Unterbrechungen im Jugendamt Mitte, seit 2015 als Regionalleiterin im Regionalen Sozialpädagogischen Dienst (in anderen Bundesländern: Allgemeiner Sozialer Dienst/ASD). Kerstin Kubisch-Piesk gibt dem Magazin für Beamtinnen und Beamte einen Einblick in die Arbeitsbedingungen des RSD.
Von Claudia Falk
Befragt nach einem „klassischen Arbeitstag“ – so es ihn denn gibt – überrascht Kerstin Kubisch-Piesk mit einem Eingangsstatement: „Ich habe immer gerne im Jugendamt gearbeitet, sowohl als Sozialarbeiterin als auch jetzt als Leitungskraft. Die Tätigkeit im RSD ist die schönste Arbeit in der Sozialen Arbeit. Man hat es mit unterschiedlichen Kulturen und Berufsgruppen zu tun, es wird nie langweilig. Ja, wir sehen schlimme Dinge, aber können auch viel zum Positiven bewirken. Das habe ich in vielen Familien erlebt. Aber wir erhalten nach wie vor nicht die nötige Anerkennung, obwohl wir viel für die Gesellschaft tun. Wir haben kaum eine Lobby, weil wir uns mit Menschen beschäftigen, die selber kaum gehört werden.“ Es werde oft das wenig differenzierte Bild vom Jugendamt gezeichnet, das Leuten ihre Kinder wegnimmt. „Wir haben ein tolles Kinderund Jugendhilfegesetz – da beneiden uns andere drum – und das ist für alle Kinder, Jugendlichen und Familien da, nicht nur für einen Teil. Das wird manchmal vergessen.“ Kubisch-Piesk möchte, dass Jugendämter ein anderes Gesicht bekommen.
DGB/C.Falk
Leider würde das Amt erst sehr spät von Problemen in den Familien erfahren. Viele – gerade Alleinerziehende mit hohem Armutsrisiko – lebten isoliert und ihnen fehle das Vertrauen, sich an das Jugendamt zu wenden. Und so kämen die SozialarbeiterInnen oft erst ins Spiel, wenn man nicht mehr im präventiven Sinne aktiv werden könne. „Früher haben wir auch mal Hausbesuche gemacht, wenn es noch nicht akut war, sondern wir von der Schule einen Hinweis bekommen haben. Jetzt haben wir den Personalschlüssel gar nicht mehr“, sagt die 51jährige und schaut trotz ihrer Lachfalten besorgt. „Das kommt wie ein Bumerang zurück. Je später das Jugendamt eingeschaltet wird, umso schlimmer kann sich die Lage schon entwickelt haben.“
Zugenommen hätten psychische Auffälligkeiten und Suchterkrankungen der Eltern, die auch immer stärker unter Leistungsdruck litten. Da kämen die Kinder dann rasch unter die Räder. Die Kinderschutzdebatte müsse man zusammen mit der Armutsdebatte führen, so die Sozialarbeiterin, doch sie betont, dass nicht nur Armut ein Risiko für Kinder darstellt. Es sei die Hoffnungslosigkeit vieler Familien, die es schwierig mache, ihnen noch Handlungsspielräume aufzuzeigen. Egal, wo das jeweilige Problem der Familie liegt: Zeit ist ein wichtiger Faktor, um mit den Familien Lösungen zu erarbeiten. „Wir dürfen als Jugendamt nicht einfach etwas von oben verordnen. Familien müssen verstehen, dass wir ihre Lage verstehen. Und dass dann ein Prozess in Gang kommt.“ Aber bei bis zu 120 Familien pro Vollzeitkraft sei das nicht zu schaffen. Deshalb gibt es in Berlin seit Jahren die Protestaktionen der „Weißen Fahnen“, mit denen auf die Personalnot und die schlechte Entlohnung in den ASD der Jugendämter (E 9 TV-L) hingewiesen wird. Vor Kurzem hatte ver.di in Marzahn-Hellersdorf zum Protest vor dem Bezirksrathaus aufgerufen, bei dem weiße Luftballons mit Forderungskärtchen in den Himmel stiegen. Auch GEW-KollegInnen nahmen teil.
Foto: Kubisch-Piesk
In Berlin sind 142 von 889 Stellen unbesetzt. 2013 wurden deshalb erstmals weiße Laken aus den Fenstern der Jugendämter gehängt. „Wir haben damals schon gemerkt, dass sich kaum noch pädagogische Fachkräfte beim ASD bewerben“, so Kubisch-Piesk. Kein Wunder: Denn wenn die AbsolventInnen aus den Fachhochschulen kommen und ohne Praxiserfahrung und kaum einer Einführungsphase von jetzt auf gleich entscheiden sollen, ob ein Kind gefährdet ist und aus der Familie genommen werden muss, flüchten viele vor der riesigen Verantwortung. „Im Hinterkopf hat man immer Fälle, wo Kolleginnen verurteilt wurden, weil sie persönlich für das Schicksal von Kindern haftbar gemacht wurden – da urteilen Richter, sie hätten die Familien nicht häufig genug besucht! Hier muss das schwächste Glied persönlich strukturelle Defizite ausbaden, auf die es keinen Einfluss hat!“ Kerstin Kubisch-Piesk ist nun richtig in Rage und fordert: „Es muss bundeseinheitlich geregelt werden, wie die Beschäftigten des Jugendamts in solchen Fällen abgesichert werden. Im Moment macht es jedes Bundesland wie es will!“ Sie selbst habe derart schwierige Situationen früher erlebt: „Freitagnachmittag, wenn keine Leitungsperson mehr erreichbar ist, stehst Du mit einem mulmigen Gefühl in einer mit Rollläden verdunkelten Wohnung zwischen Mutter und Kind – die Stimmung angespannt, aber kein sichtbares Anzeichen von Gewalt – und musst binnen Sekunden entscheiden, ob da eine Situation eskalieren könnte, kaum dass Du den Rücken drehst. Ich kann nachvollziehen, dass gerade unerfahrene Sozialarbeiter sich lieber einmal mehr für die Herausnahme des Kindes entscheiden, um sich nicht haftbar zu machen. Aber so etwas ist ein Trauma für alle. Gesetzlich sind wir natürlich verpflichtet, die Kindeswohlgefährdung zu belegen vor einer Inobhutnahme.“
Beamtenmagazin
Ein Balanceakt. „Und wer dann noch private Probleme hat – was im Leben bei jedem mal vorkommt – kann den Job kaum noch machen“, so Kubisch-Piesk. Klar, die Schicksale aus dem Arbeitsalltag streift man nicht an der Wohnungstür ab. Dem gewerkschaftlichen Protest „Weiße Fahnen“ in Berlin sei es zu verdanken, dass ein Maßnahmenkatalog der Senatsverwaltung mit den Jugendamtsleitungen und Jugendstadträten entwickelt wurde, der jedoch noch immer nicht umgesetzt sei. „Aber wir können es uns auf die Fahnen schreiben, dass die Idee des dualen Studiums der Sozialen Arbeit geboren wurde. Das wird ab 2019 in Berlin an der Alice-Salomon-Hochschule angeboten“, sagt Kerstin Kubisch-Piesk nicht ohne Stolz. Die Attraktivitätsfaktoren: integrierte Praxisphasen und eine Vergütung für die Studierenden. Eine Hospitation im Jugendamt vor der Berufswahl hält Kubisch-Piesk zusätzlich für hilfreich, um die Eignung zu hinterfragen. Denn neben dem theoretischen Rüstzeug braucht es auch eine klare Persönlichkeitsstruktur, um den Herausforderungen im Kinderschutz gewachsen zu sein.
Das Kinder- und Jugendhilferecht wurde 1990 im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) neu geregelt. Es löste das Jugendwohlfahrtsgesetz ab, das eher kontroll- und eingriffsorientiert war und von vielen als repressiv empfunden wurde. Mit dem KJHG wurde dann auf Prävention, Unterstützung, Hilfe und Freiwilligkeit gesetzt. Der ASD soll Kinder und Jugendliche vor Gewalt, Verwahrlosung und Missbrauch schützen. Die Aufgaben der ASD, die in der Regel bei den kommunalen Jugendämtern angesiedelt sind, umfassen:
Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) beschreibt es so:
„Auf der Grundlage einer umfassenden Jugendhilfeplanung ist der ASD verantwortlich für die Gestaltung einer sachgerecht und zielorientiert funktionierenden Jugendhilfeinfrastruktur, Implementierung und Steuerung von Kooperationsbeziehungen/professionellen Netzwerken und Management der Schnittstellen in den Bereichen Prävention, Hilfe und Kontrolle bei Erziehungsproblemen und Kindeswohlgefährdung zu den Trägern der freien Jugendhilfe sowie zur Schule, zum Gesundheitswesen und zur Bundesagentur für Arbeit.“
Im ASD sind SozialarbeiterInnen/SozialpädagogInnen tätig, die mit den Methoden der Einzelhilfe, sozialen Gruppenarbeit, Gemeinwesenarbeit sowie sozialtherapeutischen Ansätzen arbeiten. Die Kommunen tragen die Hauptlast der Finanzierung des Jugendhilfesystems.
Kubisch-Piesk: „Man muss neugierig sein auf Menschen und ihre Geschichten. Wir brauchen ein positives Menschenbild und die Überzeugung, dass jeder Mensch ein Recht auf Beratung hat, egal woher er kommt, was er gemacht oder unterlassen hat. Auch wichtig: Transparenz und Entscheidungsfreude. Natürlich muss ich nicht immer die Machtkeule herausholen, weil ich im Auftrag des Staats arbeite und mit dem Familiengericht drohen. Aber es ist fatal, um den heißen Brei herumzureden, ich muss auch Unangenehmes und klare Erwartungen deutlich benennen. Zugewandt und wertschätzend!“ Die Expertin klopft auf den Tisch, als wollte sie diese Punkte besonders betonen. „Diese Mischung zu finden, ist nicht leicht in einem Konfrontationsgespräch, aber wichtig, weil Eltern sonst nicht verstehen, warum wir ihnen z. B. die Kinder wegnehmen müssen. Das kann man lernen.“ Und da war er wieder: der Faktor Zeit; Zeit auch für Fortbildungen, Teambesprechungen, Supervision.
Auch Offenheit für andere Kulturen ist unabdingbar. „Wir kommen gerade in diesem Bezirk mit den verschiedensten Nationalitäten nicht weit mit deutsch-sozialarbeiterischen Methoden“, so Kubisch-Piesk. „Beispiel arabische Familie: Wenn die Männer nicht zum Gespräch kommen, können Sie keine Verabredungen treffen. Man muss zwar nicht alles akzeptieren, aber wenigstens nachvollziehen. Umkrempeln können Sie die Menschen nicht.“ Für eine bewährte Methode der familiären Konfliktlösung hält die Regionalleiterin den „Familienrat“. Ein Verfahren, bei dem sich Familien ernst genommen fühlten, weil sie selbst Lösungen entwickeln würden. Den Rahmen setzen KoordinatorInnen freier Träger. Sie bereiten ein Treffen vor, zu dem möglichst viele Familienangehörige eingeladen werden – die Familie bestimmt Ort und Zeit. Ihre Diskussion wird von den KoordinatorInnen moderiert. In der nächsten Phase verlassen die Profis (das können auch LehrerInnen der Kinder sein) den Raum, so dass die Familie unter sich Vereinbarungen trifft. Diese werden schriftlich fixiert und allen Beteiligten zugeschickt. Eine bis sechs Stunden dauert so ein Treffen. Kerstin Kubisch-Piesk, die häufig Familienräte miterleben durfte, erinnert sich gerne: „Das ist zwar emotional sehr anstrengend für alle Beteiligten. Aber es entstehen Lösungen, auf die wir im Helfersystem gar nicht gekommen wären.“ Nach acht bis zwölf Wochen wird auf einem weiteren Treffen abgeglichen, was umgesetzt wurde und geschaut, wo noch Unterstützung nötig ist. In Hamburg ist der Familienrat bei den Familienratsbüros angesiedelt und nicht direkt beim Jugendamt. „Das mindert die Hemmschwellen für die Familien“, sagt Kubisch-Piesk, die den bundesweiten Austausch auf Netzwerktreffen schätzt.
Die engagierte Regionalleiterin hat noch weitere Forderungen: Sozialarbeit dürfe nicht nach Kassenlage, sondern müsse nach pädagogischem Bedarf des Einzelfalls erfolgen. Da aber viele Kommunen unterfinanziert seien, müsse der Bund einspringen und mehr Kosten übernehmen. „Für unser Jugendamt kann ich sagen, dass wir noch keinem Jugendlichen eine Hilfe zur Erziehung verwehrt haben, weil sie zu teuer ist. Aber es mangelt an der Prävention.“ Und es gebe zu wenig Pflegefamilien und Angebote für Kinder im Grundschulalter.
Die Zusammenarbeit mit den Schulen gestalte sich unterschiedlich, je nachdem wie engagiert einzelne LehrerInnen seien. Die Kooperationsvereinbarungen über Lotsen der ASD in der Schule könne man ausbauen. „Die Schulen werfen oft schon in der Grundschule die Arme hoch und sagen: Die Kinder können wir nicht mehr beschulen. Und dann müssen wir mit ambulanten Hilfen agieren.“ Manchmal machten es sich die Schulen etwas leicht, sagt Kerstin Kubisch-Piesk, wobei sie auch die Belastungen der LehrerInnen sieht, die zu wenig Zeit für Elterngespräche hätten und darin oft auch nicht geschult seien. „Zum Jugendamt kommen alle Meldungen, wir aber können es niemandem weitermelden. Da fühlen wir uns schon manchmal wie eine Abladestation.“
Man könnte Vieles besser machen, aber dazu bräuchte es den politischen Willen in Deutschland, Kinder und Jugendliche besser schützen zu wollen. Kerstin Kubisch-Piesk wirkt dennoch keinesfalls resigniert, sondern zugewandt und kämpferisch, womit sich der Kreis zu ihrem Eingangsstatement schließt. Eine Forderung hat sie sich bis zum Schluss aufgehoben: „Das KJHG regelt so viel, aber es gibt keinen Paragrafen der festlegt, wie die personelle und sachliche Ausstattung von Jugendämtern zu sein hat, inklusive Fortbildungsanspruch. Das muss kommen.“
Endlich einmal wurden die pädagogischen Fachkräfte in den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) der Jugendämter direkt befragt: Für die repräsentative Studie von Kathinka Beckmann, Thora Ehlting und Sophie Klaes (veröffentlicht im Mai 2018 im Verlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge) haben 652 MitarbeiterInnen verschiedener Abteilungen und Erfahrungsstufen aus 175 Jugendämtern aller Bundesländer (563 Jugendämter gibt es bundesweit) mitgewirkt. Online und postalisch wurden Fragebögen beantwortet, in qualitativen Interviews bestimmte Aspekte vertieft. Die Studie erreicht eine weitgehend ausgewogene Nord/Süd- sowie West/Ost-Verteilung.
Die wichtigsten Ergebnisse:
Aus Sicht der StudienautorInnen müssten bundesweit 16.645 zusätzliche SozialarbeiterInnen in den Jugendämtern eingestellt werden. Derzeit sind 13.355 MitarbeiterInnen im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) tätig. Nach Jahren der Sparpolitik und Ökonomisierung (Budgetierung, Kontraktmanagement) des Sozialbereichs besteht ein enormer Nachholbedarf an Personal. Aktuell würden zwar 41 Prozent mehr Fachkräfte im ASD arbeiten als 2010, heißt es in der Studie, diese sähen sich jedoch steigenden Hilfebedarfen ausgesetzt, für deren ideale Abdeckung die ASD-Stellen bundesweit etwa verdoppelt werden müssten.