Deutscher Gewerkschaftsbund

12.03.2019
Europa

"Sklavengesetz" und Dumpinglöhne: Was sich (nicht nur) in Ungarn ändern muss

Gemeinsam für gute Arbeit und faire Mobilität in Europa

von Kerstin Deppe

Niedriglöhne als Geschäftsmodell und ein neues „Sklavengesetz“ zur Arbeitszeit: Mit seiner arbeitnehmerfeindlichen Politik treibt Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán die Menschen aus dem Land. Doch allmählich regt sich Widerstand, auch in den Betrieben. DGB-Vorstand Stefan Körzell hat vor Ort mit Beschäftigten über ihre Situation und mögliche Perspektiven gesprochen.

Ungarische Fahne vor dunkelgrauem Hintergrund

DGB/Sirichai Chin/123RF.com

12 Stunden am Tag…

3 Uhr früh, der Wecker klingelt. Für Zsuzsanna R.* beginnt ein ganz normaler Arbeitstag. Sie steht auf, macht sich fertig und fährt zur Arbeit. Erst eine Stunde mit dem Zug, dann weiter mit dem Bus - auf den sie, wenn gerade Sonn- oder Feiertag ist, eine halbe Stunde warten muss. Dann startet sie ihre Schicht, arbeitet 12 Stunden in der Produktion. 12 Stunden, in denen sie viermal zehn und einmal zwanzig Minuten Pause machen darf und es nicht in die Kantine schafft.

Wenn sie abends um halb acht wieder nach Hause kommt, war Zsuzsanna 16 Stunden für ihren Job auf den Beinen - und hat für Freizeit oder Familie keine Zeit und Kraft mehr.

…. 600 Überstunden im Jahr

Zsuzsanna arbeitet in Budapest, an einem ungarischen Standort eines deutschen Unternehmens. 24 Stunden am Tag wird hier produziert, an 7 Tagen in der Woche. Die Beschäftigten arbeiten im 12-Stunden-Schichtsystem, haben nach zwei Arbeitstagen jeweils zwei Tage frei. Theoretisch zumindest: Weil überall im Betrieb Personal fehlt, werden regelmäßig Überstunden angeordnet.

300 bis 400 Stunden Mehrarbeit pro Kopf und Jahr sind fast schon Standard, viele hier bringen es auf 600 Überstunden im Jahr. Das entspricht im Schnitt etwa 8 bis 12 Stunden Mehrarbeit pro Woche. Weil das Lohnniveau extrem niedrig ist, sind viele von Zsuzsannas Kolleginnen und Kollegen auf diesen Zusatzverdienst angewiesen - und können die Überstunden schon deshalb nicht ablehnen.

Der Besuch von Stefan Körzell in Bildern

„Woorking Poor“ als Standortvorteil?

So wie bei Zsuzsanna sieht es in vielen ungarischen Betrieben aus. Extrem niedrige Löhne und extrem viele Überstunden sind keine Ausnahmen oder Einzelfälle, sondern Normalität - und das ist genau so gewollt. Für Ministerpräsident Viktor Orbán sind Dumpinglöhne der entscheidende Wettbewerbsvorteil seines Landes im Vergleich zu potentiellen Konkurrenzstandorten. An dieser Grundüberzeugung richtet er seine Wirtschaftspolitik aus.

Auf den ersten Blick scheinen ihm die Zahlen auch durchaus Recht zu geben: Die Wirtschaft wächst seit Jahren, 2018 um beachtliche 4,9 Prozent. Gleichzeitig sind die Arbeitslosenzahlen auf ein Rekordtief gesunken, im Land herrscht nahezu Vollbeschäftigung.

Nichts wie weg hier

Doch auf den zweiten Blick offenbaren sich die Schattenseiten. Trotz Vollbeschäftigung ist Ungarn laut Eurostat nach Bulgarien das zweitärmste Land in der EU, in den Dörfern leben 40 Prozent der Menschen unter dem Existenzminimum. Der durchschnittliche Nettolohn liegt bei 675 Euro, es gibt große soziale Ungleichheiten und ein enormes Stadt-Land-Gefälle. Aufgrund der schlechten Arbeits- und Einkommensbedingungen verlassen immer mehr Menschen das Land.

Die Folge: In den Unternehmen herrscht massiver Personalmangel, die Fluktuation ist hoch. Weil auch im Gesundheits- und Sozialwesen Fachkräfte fehlen, ist die medizinische Versorgung kritisch, die Situation an Kitas und Schulen zum Teil katastrophal - was noch mehr Arbeitskräfte aus dem Land treibt. Vor allem gut Ausgebildete und hoch Qualifizierte wandern ab, gehen nach England, Deutschland oder Österreich, wo sie deutlich besser verdienen und leben können.

Für die Wirtschaft wird das zunehmend zum Problem. Um den Engpass auszugleichen, werden verstärkt Arbeitskräfte aus Serbien und der Ukraine angeworben - doch auf einen Arbeiter, der aus dem Ausland nach Ungarn kommt, kommen zwei Ungarn, die das Land verlassen.

„Sklavengesetz“ sorgt für Proteste

Wenn es zu wenig Leute gibt, müssen die, die da sind, eben mehr arbeiten: Das scheint sich die ungarische Regierung zu denken, als sie Ende 2018, ohne vorherige Konsultation mit Sozialpartnern, ein neues Überstundengesetz verabschiedet. Es sieht vor, dass künftig bis zu 400 Überstunden im Jahr zulässig sind und dass diese vom Arbeitgeber erst innerhalb von drei Jahren kompensiert werden müssen.

Doch damit setzt die ungarische Regierung unfreiwllig eine Entwicklung in Gang, die niemand vorausgesehen hat. Es regt sich Widerstand, die Stimmung im Land ändert sich. Im Parlament kommt es zu tumultartigen Szenen, in Budapest gehen tagelang Tausende Menschen auf die Straße, um gegen das so genannte „Sklavengesetz“ zu protestieren. Bei den Demonstrationen stehen Oppositionsparteien und Gewerkschafter, Arbeiter und Wissenschaftler, Junge und Alte Seite an Seite. Das hat es so in Ungarn noch nicht gegeben. Der Protest gegen das Sklavengesetz bringt weite Teile der Bevölkerung zusammen - und das Thema Löhne und Arbeitsbedingungen auf die Tagesordnung.

Neue Chance für Gewerkschaften

Die ungarische Gewerkschaftslandschaft ist vielfältig. Neben zahlreichen Betriebsgewerkschaften gibt es landesweite Branchengewerkschaften sowie Dachverbände, insgesamt sind es 1037. Jede Gewerkschaft mit eigener Zuständigkeit, oft fehlen verbindende Elemente. Jetzt steigen die Erwartungen an die Gewerkschaften, und der Fachkräftemangel stärkt ihre Verhandlungsposition gegenüber den Unternehmen. Das zeigt sich in zum Teil beachtlichen Tariferfolgen: Mercedes-Benz erhöht in seinem Werk in Kecskemét die Löhne in den nächsten beiden Jahren um 35 Prozent, bei Audi in Györ erstreiten die Beschäftigten mit einem einwöchigen Streik 18 Prozent mehr Lohn. Im Monat darauf kann sich die zuständige Gewerkschaft über rund 1.000 neue Mitglieder freuen, allein an diesem Standort.

Streik hat keine Tradition in Ungarn; für ihre Rechte einzutreten und zu kämpfen, müssen die Beschäftigten erst lernen. Doch allmählich setzt sich im Land die Erkenntnis durch, dass Veränderungen möglich sind - wenn man sich zusammentut. Das gilt auch auf Ebene der Gewerkschaften. Bei einem Besuch in Budapest Ende Februar trifft sich DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell mit den Vorsitzenden der fünf größten ungarischen Dachverbände und spricht mit ihnen über die aktuellen Herausforderungen. In einer gemeinsamen Erklärung verständigen sich der DGB und die ungarischen Verbände auf Regeln für faire Arbeitszeiten und Löhne in Europa. 

"Ziel der ungarischen und deutschen Gewerkschaftsbünde ist ein soziales Europa mit guter Arbeit, fairen Löhnen und einem hohen sozialen Schutzniveau, das Vorreiter für eine faire Globalisierung ist. Nationalismus ist keine Lösung. Wir brauchen mehr solidarische Zusammenarbeit in Europa."

Screenshot Facebook-Post zur gemeinsamen Erklärung von DGB und ungarischen Gewerkschaftsbünden

Facebook/DGB Bundesvorstand

"Wir haben viel zu lange geschwiegen"

Die neue Dynamik ist auch in Zsuzsannas Betrieb zu spüren. Die vielen Überstunden und die hohe Arbeitsbelastung sind hier längst nicht das einzige Problem. Beschäftigte und Betriebsrat berichten von Willkür und völlig intransparenten Lohnstrukturen, von Überstunden, die nicht vergütet werden, von nicht eingehaltenen Ruhezeiten zwischen den Schichten. Aufgrund des Personalmangels kann rund ein Drittel des Urlaubs nicht genommen werden, der Krankenstand im Unternehmen ist hoch. Immer wieder kommt es zu unrechtmäßigen Entlassungen und Schikanen durch Vorgesetzte. 

"Rechtswidrigkeiten und Gesetzesverstöße sind an der Tagesordnung", sagt der Vorsitzende des Betriebsrats. Und räumt selbstkritisch ein: "Wir haben viel zu lange geschwiegen." Damit soll jetzt Schluss sein. Zum ersten Mal wird der Fall einer Kollegin, die ohne Begründung von ihrem Arbeitsplatz entfernt wurde, vor Gericht gebracht; zum ersten Mal traut sich diese Kollegin, mit Namen und Gesicht für ihr Recht einzutreten. Das ist neu in einem Land, in dem die Beschäftigten gewohnt sind, aus Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes nicht aufzumucken. Einer Facebook-Gruppe, in der Betroffene ihre Fälle melden können, treten in nur einer Woche mehrere Hundert neue Mitglieder bei. "Das Management ist alarmiert", sagt der Betriebsrat. "Wir lernen, uns zu wehren - und die Unternehmen müssen lernen, die Gewerkschaften ernst zu nehmen."

Logo der Industriegewerkschaft Metall

IG Metall

IG Metall unterstützt ungarische Gewerkschaften

Trotz des für sie historisch günstigen wirtschaftlichen Umfelds und einiger beachtlicher Erfolge haben die ungarischen Gewerkschaften nach wie vor mit erheblichen Hindernissen zu kämpfen. Unterstützt werden sie von der IG Metall. Sie betreibt seit 2016 mit der Schwestergewerkschaft Vasas eine Bildungseinrichtung für Arbeitnehmervertreter in Györ. Auf Grundlage der Transnationalen Partnerschaftsinitiative werden Betriebsräte und Vertrauensleute geschult. Weitere Infos:

IG Metall: Dem Überstundenmonster die Zähne ziehen

IG Metall: Beschäftigte erhöhen Druck auf Regierung Orbán

Magazin Mitbestimmung: Gegen die Machtlosigkeit in Ungarns Autofabriken

*Name geändert

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Rede von Stefan Körzell


Stefan Körzell bei der FES-Tagung "Faire Löhne und Arbeitsbedingungen innerhalb der EU" am 28.02.2019 in Budapest

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