Deutscher Gewerkschaftsbund

12.06.2009
Mindestlohn-Interview

Neues aus dem Bus: Mit Doris Barnett (SPD)

Doris Barnett (SPD), Reinhard Dombre (DGB)

Doris Barnett (SPD) und Reinhard Dombre (DGB) DGB/mindestlohn.de

Niedriglöhne sind möglich, weil der Staat die mageren Einkommen aufstockt, meint Doris Barnett (SPD). Sie krisisiert es als "unanständiges Verhalten von denen, die der Gemeinschaft ihre Kosten aufbürden, also zu niedrige Löhne zahlen", sagt sie im Mindestlohn-Interview mit Reinhard Dombre. Doris Barnett (SPD) ist seit 1994 Mitglied im Deutschen Bundestag und Vorsitzende des Unterausschusses Regionale Wirtschaftspolitik.

Wie finden Sie die Idee mit der Forderung nach 7,50 EUR auf dem Bus, in dem wir fahren?

Doris Barnett: Ich finde sie richtig und notwendig. Das Wissen in unserer Bevölkerung, was an Lohn gezahlt wird, ist nämlich nicht sehr ausgeprägt.

Was sind die Gründe für die enorme Ausweitung des Niedriglohnsektors in Deutschland, der mittlerweile 22 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse umfasst?

Doris Barnett: Die Welt und damit die wirtschaftliche Betätigung ist im wahrsten Sinne des Worts grenzenlos geworden. Ein Abschotten gegen Billig-Konkurrenz ist so gut wie unmöglich – und auch von allen nicht gewollt. Durch die Dienstleistungs-Richtlinie der Europäischen Union wird sich diese Situation auch auf dem Dienstleistungssektor verfestigen – wenn wir nicht gegensteuern. Ich rechne mit einer Zunahme von entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nach dem 01.01.2010. Da es keine verbindliche gesetzliche Mindestlöhne gibt, gilt in den Branchen, in denen es bisher keinen Mindestlohn gibt, keine Lohnuntergrenze. Damit würde ein weiterer Dumpingprozeß bei den Löhnen ausgelöst.

Welche Auffassung vertreten Sie, wie dieser Entwicklung begegnet werden kann?

Doris Barnett: Ein schlagkräftiger, durchsetzungsfähiger Europäischer Gewerkschaftsbund wäre für mich mehr als notwendig, um wenigstens in Europa das Lohngefälle einzuebnen. Bis dahin müssen wir national agieren, und das heißt für mich, dass die Gewerkschaften wieder stärker werden müssen als Gegenüber auf gleicher Augenhöhe mit den Arbeitgebern. Mir sind Gewerkschaften allemal lieber für die Lohnfindung als der Staat. Wo es aber keine Gewerkschaften gibt bzw. die derzeit noch zu schwach sind, um ihre Forderungen durchzusetzen, brauchen wir als unterste Auffanglinie den Mindestlohn, der dann vom Staat auf Vorschlag eines kompetenten Gremiums festgesetzt wird.

Was muss die Politik unternehmen, damit Existenz sichernde Löhne gezahlt werden?

Doris Barnett: Wir alle wissen, dass Papier geduldig ist. Selbst wenn es einen staatlichen Mindestlohn gäbe, der eben die Existenz sichern würde, ist ja noch lange nicht gesagt, dass der auch gezahlt wird. Es wird deshalb bei der öffentlichen Auftragsvergabe auf die Einhaltung von Tarif- bzw. Mindestlöhnen bestanden werden müssen und auch Kontrollen erfolgen. Bei Verstößen müssen Firmen – auch ein Generalunternehmer – von weiteren öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden. Spätestens dann, wenn ein vollbeschäftigter Arbeitnehmer beim Grundsicherungsamt seinen „zweiten Lohn“ vom Staat beantragen muss, kann der gezahlte Lohn überprüft werden. Und das gilt dann für alle Arbeitsplätze und Aufträge. Der Staat wird das tun müssen, weil es halt immer noch keine flächendeckenden Tarifverträge gibt, genauso wenig wie in jedem Betrieb einen Betriebsrat.

Welche Position vertritt die SPD im Hinblick auf die Bundestagswahl 2009 bzgl. Existenz sichernder Mindestlöhne?

Doris Barnett: Seit langem macht sich die SPD stark für den Mindestlohn – und daran wird die SPD auch festhalten.

Verstoßen Niedriglöhne gegen die Garantie des Grundgesetzes, die Würde des Menschen sei unantastbar?

Doris Barnett: Vorsicht, Vorsicht, wenn hier gleich mit dem Grundgesetz gewunken wird. Gerade wegen der Würde des Menschen haben wir die Sozialen Sicherungssysteme in Deutschland so ausgebaut, dass sie dafür sorgen, dass jeder ein Dach über dem Kopf hat, der will. Das ist ganz anders in den USA, wo auch die UN-Menschenrechte – und damit auch die Menschenwürde – gelten*). Wie ich vorher aber schon sagte, werden Niedriglöhne angeboten, weil ja „der Rest“ vom Staat bezahlt wird. Und so was nenne ich ein unanständiges Verhalten von denen, die der Gemeinschaft ihre Kosten aufbürden, also zu niedrige Löhne zahlen. Wenn die Löhne allerdings 25 bis 30 Prozent unter den ortsüblichen Löhnen liegen, gelten sie als sittenwidrig – das ist auch vom Bundesverfassungsgericht so entschieden.

Ist die soziale Marktwirtschaft mit Niedriglöhnen vereinbar?

Doris Barnett: Die Lohnfindung in einer sozialen Marktwirtschaft sollte auf Augenhöhe stattfinden und den Interessenausgleich der beiden Parteien (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) widerspiegeln. Weil wir aber nicht überall gleich starke Seiten – wenn überhaupt – haben, kommt es zu Arbeitsverhältnissen, die sich weitgehend am Gesetz orientieren (Urlaub, Arbeitszeit, Arbeitsicherheit usw.), mit der Ausnahme Lohn. Dafür gibt es – noch – keine gesetzliche Regelung. In einer freiheitlichen Weltordnung mit einer sozialen Marktwirtschaft schaffen Regeln Ordnung und Vertrauen. Dazu zählt für mich auch ein Mindest-Lohnniveau bei Vollbeschäftigung, von dem man ohne staatliche Unterstützung leben kann.

Würde die soziale Marktwirtschaft durch flächendeckende Lohnuntergrenzen unsozial?

Doris Barnett: Wieso das denn?

20 von 27 EU-Staaten sichern Lohnuntergrenzen über Mindestlöhne. Sind die alle schlecht beraten?

Doris Barnett: Natürlich sind sie nicht schlecht beraten – sonst wären sie ja alle schon „bankrott“. Denn offenbar lohnt es sich doch, dort zu produzieren, Dienstleistungen anzubieten. Eine Lohnuntergrenze dient meiner Meinung nach auch dem sozialen Frieden vor Ort.

Kann der deutsche Arbeitsmarkt angesichts der bevorstehenden Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU ab Mai 2011 auf verbindliche Lohnuntergrenzen verzichten?

Doris Barnett: Es wäre töricht, auf solche zu verzichten. Denn sie stabilisieren nicht nur den einheimischen Arbeitsmarkt, sondern sie sorgen auch dafür, dass in anderen Ländern der Lohn angepasst wird – nach oben. Seit Polen in der EU ist, sind dort die Löhne um mehr als 40 Prozent gestiegen. Wenn wir schon ein menschenwürdiges Europa wollen, dann muss sich das auch in den Einkommen und somit in den Löhnen seiner Bürgerinnen und Bürger widerspiegeln.

Sollte es für die Zeitarbeit auch einen Mindestlohn geben?

Doris Barnett: Natürlich! Am liebsten hätte ich natürlich „gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ – das wären dann nämlich oft die höheren Tariflöhne!

Berücksichtigt die Politik bei ihren Konjunkturprogrammen die tatsächlich Bedürftigen, z.B. Niedriglohnbeschäftigte?

Doris Barnett: Ich sage „ja“. Denn mit der Möglichkeit des Kurzarbeitergeldes für bis zu 24 Monate geht auch die Möglichkeit der (Weiter-)Bildung einher. Für den Arbeitnehmer ist das interessant, weil er nicht nur auf der „Höhe der Zeit“ mit seinem Wissen bleibt, sondern dieses erweitern kann und für den Arbeitgeber gibt es den Kostenspareffekt, dass von der BA die Sozialversicherungskosten zu 100 Prozent übernommen werden. Der Betrieb ist auch gut beraten, seine Mitarbeiter, auch die Niedriglohnbeschäftigten, weiterzubilden. Denn nach der Krise, deren Ende ja absehbar ist (wenn auch dies nicht zeitgleich für Arbeitsplätze gilt), werden die Betriebe am besten vom Start wegkommen, die eine gut ausgebildete Arbeitnehmerschaft hat. Ich kann nur hoffen, dass möglichst viele Betriebe das nicht nur sehen und wissen, sondern auch danach handeln.

Es werden Rettungsschirme für die Wirtschaft gespannt. Sind Lohnuntergrenzen nicht auch Rettungsschirme für die Betroffenen?

Doris Barnett: Das ist ja gerade das Ansinnen der SPD, jetzt mit Mindestlöhnen den freien Fall der Löhne zu stoppen, insbesondere angesichts des Inkrafttretens der Dienstleistungsrichtlinie ab dem 1.1.2010. Wenn es uns nicht gelingt, bald für flächendeckende Mindestlöhne zu sorgen, haben wir die nächste Schieflage im Lohngefüge in unserem Land vor der Tür.


*) [Dort heißt es u.a. in Art. 23, Abs. 3. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen. Die Red. ]

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