Deutscher Gewerkschaftsbund

04.10.2010

Bildungspaket: Mehr Schein als Sein

In kaum einem Industrieland hängen Bildungserfolg und soziale Herkunft so eng zusammen wie in Deutschland. Dagegen hilft auch kein Bildungspaket, wie es Arbeitsministerin von der Leyen kürzlich geschnürt hat. Wir brauchen eine abgestimmte Politik zwischen Bund, Ländern und Kommunen.

Von Mathias Anbuhl

Die Zahlen sind erschreckend: Jedes siebte Kind in Deutschland lebt in Armut. Mehr als 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche, die jünger als 18 Jahre sind, beziehen heute Sozialleistungen (ALG II oder Sozialhilfe). Diese Kinder leiden nicht nur unter materiellem Mangel, sie haben auch – zahlreiche nationale und internationale Vergleichsstudien beweisen es – geringere Bildungschancen und damit schlechtere Lebensperspektiven als Gleichaltrige aus finanziell besser gestellten Familien. Kinderarmut im reichen Deutschland ist noch immer ein Skandal.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Hartz IV-Urteil vom 9. Februar 2010 genau diesen Misstand aufgegriffen. Die Karlsruher Richter haben in ihrem Urteil zur Ermittlung der Hartz IV-Regelsätze festgestellt, dass zur Sicherung eines menschenwürdigen Daseins neben der physischen Existenz auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischem Leben gehört. Die Richter kritisieren insbesondere, dass bei der Berechnung der Regelsätze nicht einmal die Aufwendungen für das Bildungswesen noch die Ausgaben für außerschulischen Unterricht in Sport und musischen Fächern einkalkuliert werden. Mit seinem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht die Teilhabe aller Menschen an guter Bildung zu einem wesentlichen Gradmesser des Sozialstaates gemacht.

Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen hat prompt reagiert. Neben der mageren Regelsatz-Erhöhung von fünf Euro für Erwachsene und der Nullrunde für Kinder schnürte die Ministerin ein so genanntes Bildungspaket. Dieses Paket sei ein Kulturwechsel. Es sorge dafür, dass die Förderung direkt bei den Kindern ankomme. Dies sei wichtiger als ein höherer Regelsatz, erklärte die Ministerin.

Klar ist: In kaum einem anderen Industrieland hängen Bildungserfolg und soziale Herkunft so eng zusammen wie in Deutschland. „Wir sind auf dem Weg in eine neue Art der Klassengesellschaft“, heißt es in der Studie „Eltern unter Druck“, die die Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentlicht hat. Ein Bildungspaket, das gerade den Kindern aus ärmeren Familien wirklich hilft, wäre tatsächlich bitter nötig.

Doch wer Ursula von der Leyens Paket aufschnürt und einen Blick auf den Inhalt wirft, muss enttäuscht sein. Für dieses Vorhaben gilt: Mehr Schein als Sein. Niedrige Regelsätze sind damit nicht zu rechtfertigen. Der vollmundig angekündigte Kulturwechsel bleibt aus. Die anvisierten Maßnahmen greifen zu kurz, teils werden längst vorhande Hilfen als neu verkauft.

Beispiel Schulbasispaket: Hier schmückt sich Ursula von der Leyen mit fremden Federn. Ein Schulbedarfspaket, das Kindern aus armen Familien den Schulranzen, den Taschenrechner oder den Zirkel bezahlt, hat bereits die Große Koalition eingeführt. 100 Euro werden den Kindern am Anfang eines jeden Schuljahrs ausgezahlt. Von der Leyens einzige Neuerung. Der Betrag wird jetzt aufgesplittet: 70 Euro gibt es am Schulanfang, 30 Euro zum Halbjahr. Ein echter Kulturwechsel sieht anders aus.

Beispiel Nachhilfe: Kinder, die Nachhilfe brauchen, sollen vom Jobcenter einen Gutschein bekommen. Das hört sich gut an, ist aber im Alltag nur wenig hilfreich. Auf dem freien Nachhilfemarkt hat sich ein wahrer Dschungel entwickelt. Die Qualität der Anbieter wird kaum kontrolliert, der Markt ist nicht nur für Hartz IV-Empfänger vollkommen unübersichtlich. Statt kommerzielle Nachhilfe-Institute mit Gutscheinen zu subventionieren, sollte die Nachhilfe vielmehr an guten Ganztagsschulen stattfinden.

Beispiel Teilhabe von Kindern in Sportvereinen und Kultur: Wenn Kinder aus armen Familien ein Theater besuchen, sich im Fußballverein anmelden oder an einer Ferienfreizeit teilnehmen wollen, darf dies nicht am Geld scheitern. Es ist gut, wenn der Staat hier einen Zuschuss zahlt. Doch auch hier greift das Bildungspaket zu kurz: Wer schon einmal sein Kind zum Klavierunterricht an der Musikschule angemeldet hat, weiß, dass man mit den versprochen zehn Euro im Monat nicht weit kommt.

Beispiel warmes Mittagessen: Es ist gut, wenn die Bundesregierung den Kindern an Schulen und Kindergärten ein warmes Mittagessen finanzieren will. Diesen Zuschuss gibt es laut Arbeitsministerium aber nur dort, wo eine solche Mahlzeit bereits angeboten wird. Für 80 Prozent der Kinder, die jünger als drei Jahre sind, gibt es aber keinen Krippenplatz. Ganztags-Kindergärten muss man fast mit der Lupe suchen. In vielen Bundesländern haben übrigens gerade Kinder aus Hartz IV-Familien keinen oder nur sehr eingeschränkten Zugang zum Kindergarten, da ihre Eltern beide nicht arbeiten. Auch für sie wird es folglich kein warmes Essen geben.

Hier zeigt sich das größte Manko des von der Leyenschen Bildungspäckchens. Es werden Zuschüsse für Leistungen versprochen, die den Kindern vielerorts gar nicht angeboten werden. Nötig ist deshalb vor allem ein massiver Ausbau der Bildungsinfrastruktur. Doch über neue Ganztagsschulen mit mehr Sozialarbeitern über den Ausbau von herkömmlichen Kindergärten zu echten Eltern-Kind-Zentren, die ganztägig geöffnet sind, denkt die Bundesregierung anscheinend nicht einmal in Ansätzen nach. Dies wäre aber ein Angebot, das wirklich allen Kindern – auch aus Hartz IV-Familien - zugute kommt.

Dabei reicht es nicht aus, dass allein der Bund ein Paket schnürt. Zur Bekämpfung der Kinderarmut brauchen wir eine abgestimmte Politik zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Was der Bund beim Theaterbesuch für arme Familien zusätzlich zahlt, dürfen die Länder und Kommunen nicht gleich für höhere Kita-Gebühren, Schulbücher und Fahrten mit dem Schulbus wieder einkassieren.

Das Bundesverfassungsgericht hat klar geurteilt: Die Sicherung des Rechts auf Bildung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe – und darf nicht dem föderalen Kräftespiel überlassen werden. Mit diesem Urteil sollte zumindest das Kooperationsverbot im Bildungswesen nach Artikel 104 b GG schleunigst abgeschafft werden. Bund und Länder müssen sich mit den Kommunen beim nächsten Bildungsgipfel auf eine gemeinsame und vor allem verbindliche Strategie für mehr Chancengleichheit im Bildungswesen einigen. Das wäre ein echter Kulturwechsel.


Mathias Anbuhl ist Leiter der Abteilung Bildungspolitik und Bildungsarbeit beim DGB-Bundesvorstand.


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