Die Zahl der Tarifverträge in Deutschland sinkt seit Jahren – zum Nachteil der Beschäftigten und der ganzen Gesellschaft. Der DGB-Tarifflucht-Atlas zeigt das Ausmaß der finanziellen Auswirkungen.
DGB/Tim M. Carmele
Die Anzahl der Betriebe, die sich an Tarifverträge halten, sinkt und damit die Anzahl der Beschäftigten, die von tariflichen Bestimmungen wie Tariflöhnen, kürzeren Arbeitszeiten, mehr Urlaubstagen sowie Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld profitieren. Nur noch 56 bzw. 45 Prozent der Beschäftigten in West und Ost profitieren von tariflichen Vorteilen, die die Gewerkschaften mit den Arbeitgebern ausgehandelt haben. Das heißt nur noch rund die Hälfte der ArbeitnehmerInnen genießt den Schutz von Tarifverträgen. Schlusslichter unter den Bundesländern sind Thüringen und Sachsen, wo die Tarifbindung nur noch 43 bzw. 39 Prozent beträgt.
Die daraus resultierenden Unsicherheiten bedrohen den sozialen Frieden und gesellschaftlichen Zusammenhalt. „Da müssen sich die Unternehmen dann schon mal die unbequeme Frage nach ihrer sozialen Verantwortung gefallen lassen“, kritisiert DGB-Vorstand Stefan Körzell.
DGB/einblick
Die regelrechte Tarifflucht der Arbeitgeber – die mit niedrigeren Löhnen und prekärer Beschäftigung einhergeht – entzieht den Sozialkassen und der öffentlichen Hand jährlich Milliarden. Das zeigen Zahlen des des DGB-Tarifflucht-Atlasses. „Das Geld fehlt für den sozialen Ausgleich und für dringend notwendige Investitionen in die Infrastruktur und in Bildung“, macht Körzell deutlich.
Den öffentlichen Kassen und Sozialsystemen, von deren Ausgaben alle BürgerInnen profitieren, entgehen so jährlich rund 40 Milliarden. Die Arbeitslosen-, Renten-, Pflege- und Krankenversicherungen verlieren rund 25 Milliarden Euro jährlich. Bund, Ländern und Kommunen fehlen durch die Ausfälle bei der Einkommenssteuer rund 15 Milliarden. Auch die Beschäftigten haben weniger Geld in der Tasche: Würden alle Beschäftigten nach Tariflöhnen bezahlt, stiege die Kaufkraft um 35 Milliarden im Jahr. Dabei sind Tarifverträge auch für die Arbeitgeber ein Gewinn: Sie sorgen für fairen Wettbewerb und verhindern Konkurrenz, die zu Dumping-Bedingungen agiert.
Von Oktober 2019 bis ins Frühjahr 2020 machen sich DGB und Gewerkschaften im Rahmen des DGB-Zukunftsdialogs für eine stärkere Tarifbindung stark. Mit Aktionen am Flughafen Nürnberg, vor Primark-Filialen, Amazon-Lagern und der Heimtierbedarf-Kette „Fressnapf“ setzten sich die KollegInnen deutschlandweit für Tarifverträge und mehr betriebliche Mitbestimmung ein. Ziel der Aktionen – auch in zahlreichen Innenstädten bundesweit – ist es, unter dem Motto „Tarif. Gerecht. Für alle.“ auf die Bedeutung von tariflichen Regelungen hinzuweisen, für Tarifverträge zu werben, wo es keine gibt, und Arbeitgeber aufzufordern, in die Tarifbindung zurückzukehren.
www.dgb.de/zukunftsdialog/tarif
DGB/einblick
Als „wünschenswert und erstrebenswert“ hat Bundeskanzlerin Angela Merkel eine höhere Tarifbindung beim Festakt zum 70. Jubiläum des DGB am 21. Oktober in Berlin bezeichnet. Auch der Staat profitiert von einer hohen Tarifbindung: Gewerkschaften und Arbeitgeber verhandeln und regeln dann viele Bereiche der Arbeitswelt, um die die Politik sich nicht weiter kümmern muss. Die Folge: stabile wirtschaftliche Verhältnisse und soziale Ausgewogenheit.
Deshalb fordern der DGB und die Gewerkschaften auch politische Anstrengungen, um die Tariflücken zu schließen. Dazu braucht es gesetzliche Reformen, um die Tariftreue als Vergabekriterium festzuschreiben und Tarifverträge leichter allgemeinverbindlich erklären zu können – d.h. für eine ganze Branche. Wird ein Unternehmen aufgespalten oder umgewandelt, müssen Tarifverträge kollektiv fortgelten, damit sie nicht auf diesem Wege ausgehebelt oder umgangen werden. Die Mitgliedschaft von Arbeitgebern ohne Tarifvertrag, sogenannte OT-Mitgliedschaften, in Arbeitgeberverbänden sollten eingeschränkt werden.
DGB/Simone M. Neumann
- öffentliche Aufträge nur an Unternehmen mit Tarifvertrag
- leichtere Allgemein-verbindlicherklärung
- kollektives Fortgelten von Tarifverträgen bei Aufspaltung oder Umwandlung von Unternehmen
- bessere Nachwirkung bei Ablauf eines Tarifvertrages
- ohne Tarifvertrag nur eingeschränkte Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden