Deutscher Gewerkschaftsbund

23.03.2021

Gesundheitspolitisches Fazit vor dem Ende der Legislaturperiode

Die Bundesregierung trat zu Beginn dieser Legislaturperiode mit umfassenden gesundheitspolitischen Zielsetzungen und Absichtserklärungen an. Es folgten dichte gesetzgeberische Taktungen aus dem Bundesgesundheitsministerium, aber auch neue inhaltliche Schwerpunktsetzungen. Mit der Corona-Pandemie erhielt die Gesundheitspolitik der Bundesregierung dann einen neuen, inhaltlich dominierenden Fokus. Was bleibt nach den vier Jahren offen, was wurde erfüllt?

Schreibtisch mit Stethoskop und Kladde, Hände und Arm Ärztin nah

DGB/morganka/123rf.com

Ohne Zweifel steht das Bundesgesundheitsministerium nicht zuerst in Verdacht, in den vergangenen Jahren per Dienst nach Vorschrift den status quo verwaltet und inhaltlich an Bestehendem festgehalten zu haben. Zwischenzeitlich erreichte die Zahl der seitens des BMG veröffentlichten Referentenentwürfe, Gesetzesvorhaben und Verordnungen derartige Höhen, dass Minister Spahn allein anhand der ablesbaren Quantität nach nur 20 Monaten Amtszeit ankündigte, Vertrauen in der Bevölkerung zurückzugewinnen.[1]

Neben ehrgeizigen eigenen Zielsetzungen konnte er dabei aus dem reichhaltigen Fundus des Koalitionsvertrages schöpfen, der neben beitrags- und finanzierungsrelevanten Zielsetzungen auch umfassende versorgungspolitische Vorhaben beinhaltete. Dazu zählte im Bereich der Finanzierung zunächst und zentral die Wiederherstellung der Parität bei den Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung, die auch einer wesentlichen Forderung des DGB und seiner Gewerkschaften entsprach – über viele Jahre hatten die Beschäftigten und ihre Angehörigen deutlich größere und ungleich verteilte Lasten zur Beitragstragung des Gesundheitswesens gegenüber den Arbeitgebern zu schultern.

Ebenso umgesetzt wurde die Absenkung der Bemessungsgrundlage für Mindestkrankenversicherungsbeiträge, um kleine Selbstständige finanziell vor Überforderung zu schützen. Hingegen wurde die Weiterentwicklung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs mit dem Ziel eines fairen Wettbewerbs und der Stärkung seiner Manipulationsresistenz zwar formal erreicht, gleichwohl muss die Frage nach dem ursächlichen Leitbild einer effizienten und zielgenauen Zuweisung der Finanzmittel an die gesetzlichen Krankenkassen entsprechend der Zusammensetzung ihr Mitgliedschaft und Versorgungssituation bestenfalls offen bleiben: als wirksam kann die lange überfällige Reform des morbi-RSA wohl erst dann gelten, wenn bestehende Verzerrungen und Ungleichgewichtungen im Zuweisungssystem dauerhaft beseitigt wurden. Dies festzustellen und der Reform somit die Erfüllung ihrer Zielsetzung zu attestieren, ist in Pandemiezeiten sowie angesichts einer völlig aus dem Gleichgewicht geratender Haushaltssituation der GKV nahezu ein Ding der Unmöglichkeit.

Umfangreich fielen auch die inhaltlichen Aufschläge im Bereich E-Health und Digitalisierung aus: neben der Realisierung der elektronischen Patientenakte, der Forcierung der Etablierung der telematischen Infrastruktur auf verschiedenen Versorgungsebenen, der Schaffung gesetzlicher Grundlagen für digitale Gesundheitsanwendungen und digitale Pflegeanwendungen sowie der Verabschiedung weitreichender Rahmenbedingungen für die Weiterverwendung und Nutzbarmachung von Versicherten- und Versorgungsdaten wurden telemedizinische Leistungen ausgebaut, das nationale Gesundheitsportal auf den Weg gebracht und die gematik unter die mehrheitliche Anteilseignerschaft des Bundes gestellt.

Während letzteres jedoch auch als eine gezielte Schwächung der gemeinsamen Selbstverwaltung zu verstehen war und zugleich der Ausweitung ministerialer Kontroll- und Entscheidungsbefugnisse auf die traditionell mitbestimmten gesundheitspolitischen Gestaltungsebenen diente, sind aus den zahlreichen digitalisierungsbezogenen Novellen neue Fragen entstanden, die Teile der Zielsetzungen des Koalitionsvertrages zumindest in neuem Licht erscheinen lassen. So dürfte der Bundesdatenschutzbeauftragte die darin enthaltene Aussage, dass die gespeicherten Daten Eigentum der Patientinnen und Patienten sind, im Rahmen der nicht enden wollenden Diskussionen zur Ausgestaltung der elektronischen Patientenakte mittlerweile noch einmal neu einordnen.

Auch ist die damals beabsichtigte Stärkung der digitalen Sicherheit im Gesundheitswesen eine Zielsetzung, die durch das Fortbestehen offener Fragen im Zusammenhang mit der Speicherung, Verwertung und Weiterverwendung von pseudonymisierten, nicht anonymisierten Versichertendaten sowie des weiten Feldes der Datenabschöpfung durch neu etablierte digitale Gesundheitsanwendungen inklusive potentieller Folgen kaum als eindeutig erfüllt betrachtet werden kann.

Bei den versorgungspolitischen Vorhaben ist das Terminservice- und Vergütungsgesetz als überschaubares Ergebnis der Ankündigungen, mit einem Sofortprogramm die Leistungen und den Zugang zur Versorgung für gesetzlich Versicherte zu verbessern, in Erscheinung getreten. Während von Anfang an klar war, dass dieser Ansatz als Minimalkompromiss zwischen SPD und der sich gegen die Einführung einer Bürgerversicherung sperrenden CDU/CSU zu verstehen war, hat vor allem die Einführung einer extrabudgetären Vergütung für mehr Sprechstundenangebote in Arztpraxen für Unverständnis und Ablehnung gesorgt, während die Engpässe bei verfügbaren Terminen insbesondere in Ballungsgebieten und ländlichen Regionen kaum behoben worden sein dürften. Dass darüber hinausgehende Vorhaben wie die Stärkung des Bekanntheitsgrades und der Kompetenzen der bundesweiten Terminvergabenummer 116 117 erreicht wurden, kann hinsichtlich eines flächendeckenden, die Gesamtheit der gesetzlich Versicherten hinsichtlich der Terminverfügbarkeit besser stellenden Versorgungsreform nicht zufriedenstellen.

Dies liegt auch daran, dass die Überarbeitung der Bedarfsplanung zur Verteilung der Arztsitze ebenso offen geblieben ist wie die nur allgemein im Koalitionsvertrag festgestellte Notwendigkeit, neben einer gut erreichbaren ärztlichen Versorgung auch eine wohnortnahe Geburtshilfe, Hebammen und Apotheken vor Ort zu berücksichtigen. Spürbare Folgen hatte diese Feststellungsrhetorik jedenfalls nicht. Ebenfalls offen geblieben ist mehr oder weniger der gesamte Bereich der sektorübergreifenden Versorgung, der zum wiederholten Male als Bestandteil eines Koalitionsvertrages auftauchte, allerdings ohnehin nur unter der Prämisse der Bildung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe und der Veröffentlichung einiger allgemeiner Stichworte avisiert wurde.

Dies war, gemessen an der Notwendigkeit und den bestehenden Handlungsbedarfen in diesem Feld, nicht viel. Mit dem zwischenzeitlich vorgelegten Referentenentwurf zur Reform der Notfallversorgung schien zwar noch ein durchaus konkreter Vorschlag auf dem Tisch zu liegen, der das Zeug zur Neuordnung des Versorgungsgeschehens bis hin zur Etablierung einer neuen Versorgungsebene gehabt hätte. Allerdings verschwand dieser Entwurf wieder in der Ministerialbürokratie, sodass auch am Ende dieser Legislaturperiode festgestellt werden muss, dass das Ziel einer sektorübergreifende Versorgung bisher immer dem Erhalt der versäulten Systemtrennung zwischen den verschiedenen Versorgungsebenen geopfert wurde.

Weitere Vorhaben bleiben unvollendet: die Überarbeitung der ambulanten Honorarordnung in der GKV wie auch der Gebührenordnung in der PKV wurden nicht angefasst, ebenso wurden wurde die Weiterentwicklung des Präventionsgesetzes auf Grundlage des Berichtes der Nationalen Präventionskonferenz wie auch der gesamte Bereich Prävention und Suchtbekämpfung inhaltlich eher vernachlässigt. Die Nachschärfung einer globalen gesundheitspolitischen Strategie, die ausdrücklich die Prävention internationaler Pandemien und die Stärkung von Gesundheitssystemen in Entwicklungsländern beinhaltete, hat spätestens mit dem bedauerlichen Festhalten der Bundesregierung an geltenden Patentbestimmungen für Arzneimitteln, Medizinprodukte und Impfstoffe zur Bekämpfung der Corona-Pandemie einen deutlichen Handlungsbedarf für die Zukunft offenbart.

Während derartige Aspekte als Pfadabhängigkeiten an die nächste Bundesregierung übergehen können, steht jedoch zur Disposition, wie mit den zahlreichen, durch das BMG beschlossenen Maßnahmen zu verfahren ist, die zwar den Buchstaben des Koalitionsvertrages folgen, in der Realität aber zu neuen Problem und ungeklärten Fragen geführt haben. Damit ist insbesondere die Beschädigung der Institution der sozialen Selbstverwaltung in der GKV gemeint, der Minister Spahn bei jeder sich bietenden Gelegenheit Kompetenzen streitig gemacht hat, in ihre Autonomie, etwa bei der Beitragsfestlegung der Krankenkassen, eingegriffen hat, oder sie gleich gänzlich über den Haufen werfen wollte, wie dies etwa bei der letztlich mit Mühe und Not verhinderten Restrukturierung der Selbstverwaltung des GKV-Spitzenverbandes zugunsten eines hauptamtlichen Lenkungsausschusses geschehen sollte.

Andere, in die Tat umgesetzte Schritte wie die organisatorische Loslösung und Neuaufstellung der medizinischen Dienste und des MD Bund von den gesetzlichen Krankenkassen und die Neuaufstellung der Zusammensetzung diese beaufsichtigten Verwaltungsräte werden in Zukunft ebenso Folgen für das Versorgungsgeschehen haben wie etwa die wiederholten Versuche, per ministerialem Dekret in die Verhandlungen des gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) einzugreifen und diesem höchsten Selbstverwaltungsgremium Vorschriften hinsichtlich Genehmigungen und Preisfestsetzungen zu machen.

Dasselbe gilt schließlich für das schwere Erbe, dass die Gesundheitspolitik der vergangenen Jahre für die künftige finanzielle und strukturelle Stabilität des gesamten GKV-Systems bedeutet: neben zahlreichen teuren, vornehmlich zugunsten der Leistungserbringer geschneiderten Gesetzen hat das BMG die Fähigkeit der gesetzlichen Krankenkassen zur Bildung und Aufrechterhaltung von Rücklagen wie auch zur verbandsinternen Hilfe im Falle finanzieller Schieflagen durch Auflösung der sog. Haftungskaskade massiv beeinträchtigt.

Während durch das Faire- Kassenwettbewerbs- Gesetz die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine Ausweitung von Wettbewerb und Preiskampf liberalisiert wurden, hat die Ausgabenausweitung bereits vor Einsetzen des Pandemiegeschehens zur Infragestellung langfristiger Finanzstabilität im GKV-System geführt. Mit der ausufernden Übertragung der Kosten für versicherungsfremde Leistungen im Rahmen der Pandemiebekämpfung an die GKV hat der Gesetzgeber diese Dynamik derart verschärft, dass am Ende dieser Legislaturperiode die finanzielle und organisatorische Stabilität der gesetzlichen Krankenkassen mehr denn je in Frage gestellt ist.

Insofern ist auch die ausschlaggebende Zielsetzung bei der eingangs erwähnten Reform des Morbi-RSA, die die Zuweisungsgenauigkeit erhöhen und somit einen effektiveren Finanzausgleich innerhalb der GKV herstellen sollte, teilweise ad absurdum geführt worden: selbst im Falle eines solchen Reformerfolgs steht zu erwarten, dass die entstandenen finanziellen Verwerfungen aufgrund Ausgabenausweitung, Pandemiebekämpfung und Rücklagenabschmelzung die dauerhafte Wirksamkeit dieser Reform beschädigen.

Zusammengefasst gilt, dass trotz Realisierung vieler Vorhaben des Koalitionsvertrages manche notwendige Reform ausgeblieben ist. Weder die Anhebung der ambulanten Versorgungsqualität für gesetzlich Versicherte inklusive einer Neufassung der Honorarordnungen wurde zufriedenstellend gelöst bzw. verwirklicht.

Die Umsetzung konkreter Maßnahmen zur Verwirklichung einer sektorübergreifenden Versorgung wurde aufgeschoben, Prävention und globale Gesundheitspolitik werden ihrer Bedeutung für einen holistischen gesundheitspolitischen Ansatz weiterhin nicht gerecht. Dem steht eine eindeutige Schwerpunktsetzung bei der Umsetzung digitalisierungspolitischer Vorhaben gegenüber. Für die nächste Bundesregierung werden diese Handlungsfelder zusammen mit der Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie und der finanziellen Stabilisierung der Solidargemeinschaft GKV nicht zu unterschätzende Herausforderungen bedeuten.

[1] Spahn: "Mit den 20 Gesetzen, die wir in 20 Monaten auf den Weg gebracht haben, wollen wir das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen." - Bundesgesundheitsministerium


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