Deutscher Gewerkschaftsbund

21.09.2017

Die europäische Dienstleistungskarte – das unsoziale Europa

Die EU-Kommission hat im Rahmen ihres Dienstleistungspakets vorgeschlagen, eine „Elektronische Europäische Dienstleistungskarte“ einzuführen, um es damit einfacher zu machen, über Staatsgrenzen hinweg Dienstleistungen anzubieten. Doch der Vorschlag läuft darauf hinaus, Märkte zu entfesseln indem nationale Regeln zum Schutz der Beschäftigten oder der Verbraucher schwerer durchgesetzt werden können.

Unternehmen, die in einem anderen EU-Land Dienstleistungen erbringen wollen, müssen heute die dort geltenden Regulierungen zum Verbraucherschutz, zum Gewerberecht oder zum Schutz der Beschäftigten einhalten. Damit sie mit der fremden Bürokratie besser zurechtkommen, gibt es seit über zehn Jahren sogenannte „Einheitliche Ansprechpartner“ – staatliche Stellen, die die ausländischen Unternehmen unterstützen sollen, die örtlichen Vorschriften zum Beschäftigten- oder zum Verbraucherschutz einzuhalten. Das Verfahren hat sich insoweit bewährt, als es dafür sorgt, dass alle im Land angebotenen Dienstleistungen denselben Regeln unterliegen, die vom zuständigen Staat festgelegt und deren Einhaltung von den Behörden dieses Staates überprüft werden.

Doch die EU-Kommission will nun ein neues Verfahren einführen, das die Regeln des Beschäftigten- und Verbraucherschutzes auszuhöhlen droht: Eine neue Dienstleistungskarte soll Unternehmen erlauben, ohne weitere Genehmigung oder Anmeldung in einem anderen EU-Land Dienstleistungen anzubieten. Diese soll zunächst für Bau- und sehr viele Unternehmensdienstleistungen eingeführt werden.

Die Dienstleistungskarte wird aber nicht im Zielland (für das sie gelten soll) beantragt, sondern bei einer Behörde im Herkunftsland des Dienstleistungsunternehmens. Die Behörde im Herkunftsland soll dann mit dem Zielland klären, ob die Dienstleistungskarte ausgestellt werden kann. Das Zielland wird aber in seinen Möglichkeiten, seine bestehenden Vorschriften für die eigenen Märkte durchzusetzen, massiv geschwächt:

  • Die zuständigen Behörden sollen nicht mehr mit den Unternehmen direkt kommunizieren, sondern vermittelt über Behörden aus dem Herkunftsland der Unternehmen. Behörden im Herkunftsland sind aber in Bezug auf Regeln des Beschäftigten- oder Verbraucherschutzes im Zielland weder kompetent noch interessiert.
  • Die Behörde des Ziellandes kann zwar Nachfragen stellen, hat dafür aber nur zwei Wochen Zeit, die auf vier Wochen verlängert werden können. Verstreicht die Zeit, gilt die Dienstleistungskarte als ausgestellt und das Unternehmen kann ohne weiteres auf dem Markt des Ziellandes seine Dienstleistungen anbieten, egal ob es tatsächlich die dort geltenden Regeln beachtet oder nicht.
  • Für notwendige Qualifikationen zur Erbringung einer bestimmten Dienstleistung soll es eine Beweislastumkehr geben: das ausländische Unternehmen muss zwar seine Qualifikation im Herkunftsland nachweisen. Ob diese aber den Anforderungen auf dem Markt des Ziellandes entspricht, muss die Behörde des Ziellandes allein prüfen, was unter dem gegebenen Zeitdruck schwierig ist.
  • Für den Nachweis reichen fälschungsanfällige elektronische Dokumente und unbeglaubigte Kopien. Es fehlen spürbare Sanktionen bei Betrug.
Elektriker mit Bauhelm an Schaltschrank

DGB/Dmitry Kalinovsky/123rf.com

Die EU-Kommission hat die Absicht, ein Verfahren einzuführen, das möglichst immer zur Ausstellung der Dienstleistungskarte führt. Die Beteiligung der Behörden des Herkunftslandes am Marktzugang im Zielland wäre ein Schritt Richtung Herkunftslandprinzip. Den zuständigen Behörden im Zielland der Dienstleistung soll es so schwer wie möglich gemacht werden, Regelungen des Beschäftigten- oder Verbraucherschutzes oder des Gewerberechts durchzusetzen. Dazu kommt, dass die Karte unbefristet gelten soll und nur in Ausnahmefällen wieder entzogen werden kann.

Einige Beispiele verdeutlichen mögliche Folgen der Dienstleistungskarte:

  1. Lässt sich ein Elektroinstallateur aus Tschechien in Sachsen nieder, muss er seine Qualifikation (z.B. zur Starkstrominstallation) nachweisen, was zunächst allein im Herkunftsland Tschechien überprüft wird. Ob die Qualifikation den deutschen Gesetzen entspricht, kann die deutsche Behörde innerhalb von vier Wochen kaum prüfen. Auch wenn eine Zugangsvoraussetzung im Nachhinein wegfällt, kann dies von der deutschen Behörde kaum nachvollzogen werden.
  2. Die Dienstleistungskarte kann auch von natürlichen Personen beantragt werden. Einmal ausgestellt gilt sie als Nachweis, dass zum Beispiel ein Handwerker in der Bauwirtschaft selbstständig ist. Bauunternehmer könnten deshalb versuchen, ihre ausländischen Beschäftigten dazu zu drängen, Dienstleistungskarten zu beantragen. Damit würden sie formal als selbstständig gelten und nicht vom Arbeitsrecht und von den Schutzbestimmungen für entsandte Arbeitnehmer profitieren. So könnten beispielsweise Regelungen für Mindestlöhne oder zu Höchstarbeitszeiten umgangen werden. Die Dienstleistungskarte ist im Ergebnis ein Einfallstor für Scheinselbstständigkeit.
  3. Eine Maklerin aus Frankfurt/Oder gilt wegen Zahlungsverzug in mehreren Fällen als „in vermögensrechtlich ungeordneten Verhältnissen“ lebend, weshalb sie kein Maklergewerbe in Deutschland anmelden darf. Sie geht nach Polen, wo sie als Maklerin arbeiten kann und versucht nun für Deutschland die Dienstleistungskarte zu bekommen. Bemerkt die deutsche Behörde unter dem Zeitdruck nicht, dass die Zulassungsvoraussetzung für Deutschland fehlt, wird die Karte ausgestellt und die Maklerin kann in Deutschland tätig werden.

Die Dienstleistungskarte erschwert also die Durchsetzung von geltendem Recht, von sozialen und verbraucherschützenden Regulierungen. Wettbewerb ist aber nur dann fair, wenn Regulierungen nicht nur vom Staat für alle Marktteilnehmer gesetzt, sondern auch bei allen gleich wirksam überwacht werden.

Ein soziales Europa schaffen

Wie falsch der eingeschlagene Weg ist, erkennt man, wenn man diese Vorschläge der EU-Kommission mit den wirklichen Problemen Europas vergleicht. Die europäische Integration steckt in der Krise. Nationalistische Parteien, die sich gegen die EU wenden, finden in vielen europäischen Ländern immer mehr Zulauf. Die Krise des Euroraums ist immer noch nicht überwunden, die Arbeitslosigkeit ist in vielen Ländern hoch, die Kürzungspolitik hat soziale Strukturen zerstört, die Armut vergrößert und die Konjunktur abgewürgt. Europa leidet unter einem Mangel an Investitionen in die Infrastruktur, in die sozialen Dienstleistungen und in die Menschen.

Doch statt diese Missstände zu beheben will die EU-Kommission den Binnenmarkt weiter deregulieren und die Durchsetzung von geltenden Beschäftigten- und Verbraucherrechten erschweren. Wenn wir den Erfolg des europäischen Projekts wollen, dann muss die EU aktiv für soziale Rechte, für einen wirksamen Beschäftigten- und Verbraucherschutz, für eine gute öffentliche Infrastruktur und soziale Dienstleistungen eintreten. Die vorgeschlagene Dienstleistungskarte ist der falsche Weg, wenn es darum gehen soll ein soziales Europa zu schaffen.


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