Am 17. November soll in Göteborg die Europäische Säule Sozialer Rechte (ESSR) verabschiedet werden. "Die Behauptung der Kritiker, ein sozialeres Europa setze die Wettbewerbsfähigkeit Europas aufs Spiel, zeigt, dass sie die Zeichen der Zeit nicht verstanden haben", sagt der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann in der Frankfurter Allgemeine Zeitung.
DGB/Simone M. Neumann
Ein Beitrag des DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann - erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. November 2017
Man erinnere sich: am 7. Dezember 2000 wurde die Grundrechtecharta der EU unterzeichnet, die im Dezember 2009 in den Lissabon Vertrag aufgenommen wurde und dadurch rechtlich verbindlich wurde. Darin enthalten sind das Recht auf Tarifverhandlungen und Streiks (Artikel 28), das Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen (Artikel 31) und auf soziale Sicherheit und Unterstützung (Artikel 34). Die Erwartungen waren groß, dass sich daraus ein neuer Schub für eine moderne europäische Sozialpolitik entwickelt und der soziale Zusammenhalt in einem solidarischen Europa gestärkt wird. Für Millionen Menschen sind diese Erwartungen bitter enttäuscht worden und der Vertrauensverlust in das europäische Integrationsprojekt ist enorm. Das hat auch der Kommissionspräsident der EU, Jean-Claude Juncker, erkannt, in dem er forderte, dass die EU ein „Triple-A-Rating“ für seine soziale Seite braucht. Am 17. November soll nun mit der „Europäischen Säule sozialer Rechte“ (ESSR) die Grundlage für einen Neubeginn in der europäischen Sozialpolitik gelegt werden. Es wird auch höchste Zeit.
Denn seit der Proklamation der Charta wurden die sozialen Rechte vor allem im Süden Europas systematisch negiert, geschliffen oder gar massiv gebrochen, besonders seit der internationalen Finanzkrise. Es erfolgten Angriffe auf Löhne, Tarifbindung, Kündigungsschutz, Gesundheitssysteme, Rentenversicherungen, Versammlungsrecht, und stets mit Argumenten, man müsse die öffentlichen Haushalte stabilisieren und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen stärken. Milliardenschwere Rettungsschirme für Banken wurden aufgespannt, während Millionen Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut getrieben wurden. Insbesondere junge Menschen wurden regelrecht im Regen stehen gelassen. Die sozialen Verwerfungen sind nicht nur wirtschaftlich kontraproduktiv, sie sind eine reale Gefahr für die Demokratie in Europa wie das Erstarken von rechtsnationalen, populistischen und europafeindlichen Bewegungen seit Jahren zeigt. Den bisherigen Tiefpunkt bildet der Brexit, neuer Protektionismus sowie die Auseinandersetzung mit separatistischen Bewegungen und eine zunehmende politische Selbstisolation der osteuropäischen Länder. Europa, ein soziales Referenzmodell für die voranschreitende Globalisierung? Davon ist schon lange nicht mehr die Rede.
Die Säule, die nun errichtet werden soll, ist der notwendige Schritt, diese Abwärtsspirale und Destabilisierung des einmaligen Einheits- und Friedensprojektes endlich zu stoppen und eine Wende einzuläuten. Zwar ist das, was in wenigen Tagen am 17. November in Göteborg verkündet werden soll, weit entfernt von einer robusten sozialen Erneuerung mit starken Arbeitnehmerrechten und modernen Sozialpolitik. Teilweise erreichen die Vorschläge nicht mal das Niveau des geltenden Primär und Sekundärrechts der EU. Doch allein die politische Proklamation kann angesichts der Herausforderungen, vor denen wir in Europa stehen – wie Globalisierung, Digitalisierung und demographische Entwicklung - ein Aufbruchssignal setzen. Der Wettbewerb nach unten muss endlich ein Ende haben.
Die Behauptung der Kritiker, ein sozialeres Europa setze die Wettbewerbsfähigkeit Europas aufs Spiel, zeigt, dass sie die Zeichen der Zeit nicht verstanden haben. Im Gegenteil: ihre Argumente sind ökonomisch kurzsichtig und sozial unverantwortlich. Ihre Vision ist offensichtlich, wer am billigsten produziert, am billigsten arbeiten lässt, die schlechtesten Konditionen bei Selbständigkeit und Subunternehmertum anbietet, wer die wenigsten Kontrollen bei Löhnen und Schwarzarbeit durchführt, wer die niedrigsten Sozialabgaben hat, gewinnt im rauen Wind des internationalen Wettbewerbs. Ein solches Wettbewerbsverständnis ist nicht nur engstirnig, es ist zynisch und unverantwortlich. Damit wird das Vertrauen in die europäische Integration nicht zurückgewonnen, sondern Protektionismus und Rechtspopulismus werden sich weiter ausbreiten.
Eine feierliche Proklamation der „Säule der sozialen Rechte“ wird aber nicht ausreichen, um die EU wieder auf Kurs zu bringen. Die Menschen müssen in ihrem alltäglichen Leben spüren, dass das Wohlfahrtsversprechen der EU praktische Auswirkungen hat. Die „Säule“ muss rechtsverbindlich sein und mit einem klaren sozialpolitischen Aktionsprogramm unterfüttert werden. Entlang einer solchen sozialen „Road-map“ können die Leute nachvollziehen, wenn ihre Löhne wieder steigen, die Tarifbindung wieder zunimmt, Sozialleistungen wieder Sicherheit und Schutz in Zeiten rasanter Veränderungen geben, Arbeitslosigkeit deutlich abnimmt und Arbeitsplätze wieder sicherer werden. Damit lässt sich Vertrauen zurückgewinnen und rechter Populismus in die Schranken weisen. Nur ein Europa, das sozial investiert, in die Bevölkerung, und deren Rechte verteidigt und modernisiert, so wie sie in der Grundrechtecharta verankert sind, wird das Vertrauen wieder gewinnen, das der Kontinent braucht, um im internationalen Wettbewerb wirklich zu bestehen.