Deutscher Gewerkschaftsbund

17.12.2020
Zwischen Proklamation und Wirklichkeit

Wird 2021 das Jahr der Europäischen Säule Sozialer Rechte?

von Susanne Wixforth (DGB)

Die Covid 19-Krise hat EU-Projekte befördert, die vorher fast undenkbar waren – z.B. europäisches Kurzarbeitergeld und das Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“. Diese ad-hoc Maßnahmen sind jedoch noch keine nachhaltige Strategie zur Umsetzung der Europäischen Säule Sozialer Rechte. Der Aktionsplan der EU-Kommission für 2021 wird zeigen, wie weit ihre sozialpolitischen Ambitionen reichen.

Europäische Flagge auf einer Mauer mit Schatten einer Menschenkette

DGB/lightwise/123RF.com

Die Europäische Union funktioniert als Wirtschaftsgemeinschaft, aber nicht als Sozialunion – das hat die Covid 19-Krise noch einmal verdeutlicht. Wenn es um die Frage geht, warum europäisches Arbeits- und Sozialrecht Stückwerk geblieben sind, wird häufig das Subsidiaritätsprinzip ins Spiel gebracht.

Subsidiarität und europäische Sozialkompetenz

Im europäischen Zusammenhang will Subsidiarität klären, auf welcher Ebene kompetent und effizient politische Projekte wie die Umsetzung der Europäischen Säule Sozialer Rechte (ESSR) realisiert werden können. Das kann einmal auf europäischer Ebene und einmal auf Ebene der Mitgliedstaaten sein. Denn die Binnenmarktfreiheiten, die Mobilität der Beschäftigten und global agierender Konzerne bringen neue Herausforderungen mit sich, die auf nationaler Ebene nicht zufriedenstellend gelöst werden können.

Deshalb ist die EU verpflichtet, dort ergänzend und koordinierend tätig zu werden, wo ihre soziale Dimension unvollendet ist: Gesundheitssysteme, Arbeitslosensysteme und Infrastruktur sind in vielen Mitgliedstaaten in der Krise. Ein wesentliches Element der Umsetzungsstrategie muss daher die Ermöglichung von Investitionen in Daseinsvorsorge und Infrastruktur sein. Die derzeitigen europäischen Fiskal- und Wettbewerbsregeln führen jedoch systematisch zu Privatisierungsdruck und zur Vernachlässigung öffentlicher Investitionen. Das muss im Rahmen der Umsetzung der ESSR geändert werden.

Reform des fiskalpolitischen Regelwerks der EU

Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften fordern seit langem, dass das EU-Fiskalregelwerk durch die Einführung einer goldenen Regel für öffentliche Investitionen ergänzt wird. Am konsequentesten ließe sich eine solche Regel durch die Einführung eines „Investitions-Protokolls“ mittels des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens nach Art. 48 EUV umsetzen. Darin sollte festgelegt werden, dass die Finanzierung öffentlicher Nettoinvestitionen durch Budgetdefizit zulässig ist. Solche Investitionen würden dann nicht in die relevanten Defizitgrößen des Stabilitäts- und Wachstumspakts sowie des Fiskalpakts einbezogen.

Doch auch ohne Vertragsänderung können öffentliche Investitionen innerhalb der bestehenden EU-Fiskalregeln gestärkt werden, beispielsweise durch eine weite Auslegung der Investitionsklausel. Das derzeitige fiskalpolitische Regelwerk sieht eine gewisse Flexibilität bei der Beurteilung der Frage vor, inwiefern die Mitgliedstaaten dem vereinbarten Konsolidierungspfad folgen müssen. Mehrausgaben für öffentliche Investitionen können bereits jetzt positiv berücksichtigt werden.

Neben der Schaffung von ausreichendem Spielraum für öffentliche Investitionen muss die wirtschaftliche Konvergenz der Mitgliedstaaten, die seit der ersten Wirtschaftskrise des neuen Jahrtausends ab 2009 zum Stillstand kam, wieder vorangetrieben werden. Das Instrument dazu könnte ein reformiertes Europäisches Semester sein.

Ein Europäisches Semester des sozial-ökologischen Fortschritts

Die fehlende soziale Dimension des Europäischen Semesters wurde von der Europäischen Kommission bereits als Achillesferse erkannt, weshalb sie nach der Proklamation der ESSR das „Social Scoreboard“ – eine Indikatorenliste zur Kenntlichmachung sozialer Missstände – entwickelte. Allerdings haben soziale Zielsetzungen im Europäischen Semester dadurch keine Aufwertung erfahren – es bleibt bei der Dominanz budgetärer und wettbewerbsbezogener Aspekte.

Für einen ausbalancierten wirtschaftspolitischen Steuerungsprozess sind aus Sicht des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften weitere Reformen notwendig:

  • Die Indikatoren des Social Scoreboard orientieren sich am Durchschnitt der Mitgliedstaaten. Für eine Aufwärtskonvergenz in sozialen Belangen ist es wichtig, Zielwerte zu formulieren und die Mitgliedstaaten daran zu messen.
  • Ein schlechtes Abschneiden im Social Scoreboard bleibt bislang politisch folgenlos. Das Social Scoreboard hätte eine größere politische Verbindlichkeit, wenn ein schlechtes Abschneiden der Mitgliedstaaten bei sozialen Indikatoren eine entsprechende länderspezifische Empfehlung zur Folge hätte. Zusätzlich könnten den Mitgliedstaaten etwa im Rahmen der Strukturfonds finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, um identifizierte soziale Missstände zu beheben.
  • Die Indikatoren des Social Scoreboard müssen um die tarifvertragliche Abdeckungsquote sowie die Zahl der Betriebe mit Mitbestimmung erweitert werden, um die industriellen Beziehungen und die Funktionsfähigkeit der Sozialpartnerschaft besser zu erfassen und daraus Empfehlungen abzuleiten.

Schließlich muss das Europäische Semester auf ein solides demokratisches Fundament gestellt werden. Die Mitspracherechte des Europäischen Parlaments und des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses könnten z.B. bei der Formulierung der wirtschaftspolitischen Leitlinien im Jahreswachstumsbericht durch eine interinstitutionelle Vereinbarung gestärkt werden. Nationale Parlamente könnten über die Nationalen Reformprogramme abstimmen sowie über die länderspezifischen Empfehlungen debattieren.

Operativer Rahmen: Aufsicht und Kontrolle

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort und die Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme innerhalb der EU sind gute Projekte. Doch es genügt nicht, Rechte und Pflichten auf dem Papier zu schaffen. Vielmehr muss sichergestellt werden, dass diese auch operativ umgesetzt werden.

In Europa arbeiten rund 18 Millionen Beschäftigte in anderen Mitgliedstaaten. Trotzdem stehen 27 unterschiedliche Arbeits- und Sozialrechtsordnungen nebeneinander. Die Kontrolle ihrer Einhaltung endet an den nationalen Grenzen. Die Einrichtung einer Europäischen Arbeitsbehörde (ELA) war deshalb ein wichtiger Schritt. Ihre erste Nagelprobe hat die ELA jedoch nicht bestanden: Europäische Gewerkschaftsverbände trugen 2019 zehn Fälle an die Behörde heran. Ihr einziger Schritt war die Versendung eines Briefes an die betroffenen Mitgliedstaaten. So kann die Umsetzung der ESSR nicht gelingen!

Die ELA muss aktiv die Umsetzung der EU-Gesetzgebung kontrollieren und bei Bedarf die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren anregen. Sie muss die nationalen Behörden bei der grenzüberschreitenden Verletzung von Arbeits- und Sozialrecht unterstützen – vergleichbar mit der EU-Kommission bei Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht.

Die ELA bietet sich auch als geeignete Institution, um ein europäisches Echtzeitregister für den sofortigen Abgleich des Bestehens einer sozialen Absicherung einzurichten und zu verwalten, um Schwarzarbeit effizient zu verhindern. Die Einführung einer Europäischen Sozialversicherungsnummer ist eine weitere Voraussetzung für den Erfolg dieses Projekts. Keinesfalls darf eines geschehen: Dass die ELA zu einer reinen Informationsagentur verkommt.

Ausblick

Die EU-Kommission hat für Anfang 2021 einen Aktionsplan zur Umsetzung der ESSR angekündigt. Dies ist ein anspruchsvolles Projekt, wenn konkrete Rechte für EU-Bürger*innen und Pflichten für die Mitgliedstaaten geschaffen werden sollen. Es wird vom politischen Willen der Mitgliedstaaten und der Ambition der EU-Kommission abhängen, ob dies gelingt. Sollte das nicht der Fall sein, braucht es eine Gruppe von Mitgliedstaaten, die auch in Krisenzeiten bereit sind, in Europa mehr gemeinsam zu machen. Das Instrument der „verstärkten Zusammenarbeit“ (Art. 20 EUV und Art. 326-334 AEUV) ist eine pragmatisch-praktikable Option, um in Europa einen Kurswechsel zu bewerkstelligen und so einen „Social Deal“ ins Leben zu rufen.


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