Deutscher Gewerkschaftsbund

02.12.2020

Soziale Rechte ohne Grenzen?

Die ewige Reform der EU-Koordinierung der sozialen Sicherheit

von Lukas Hochscheidt und Robert Nazarek (DGB)

Die EU-Verordnung zur Koordinierung der Sozialsysteme hat Reformbedarf: Sie wird den Herausforderungen eines immer mobiler werdenden europäischen Arbeitsmarktes nicht mehr gerecht. Parlament, Kommission und Rat verhandeln dazu seit 2018 – woran scheitert ein Kompromiss noch immer?

Fahnen der EU und EU-Länder vor einer Glasfassade (Europäisches Parlament)

Colourbox.de

Die Verordnung 883/2004 ist einer der zentralen Bausteine des Sozialen Europas: Sie regelt den Zugang von Unionsbürger*innen zu Sozialleistungen in anderen Mitgliedstaaten – darunter fallen z.B. Arbeitslosen-, Kranken- und Familienleistungen. Die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der EU ist Voraussetzung für die Arbeitnehmer*innen-Freizügigkeit auf dem Binnenmarkt. In ihrer derzeitigen Fassung jedoch hat die Verordnung viele Lücken, die zu Sozialversicherungsbetrug, der Ausbeutung mobiler Beschäftigter und fehlendem Versicherungsschutz führen.

Aus diesem Grund hat die Europäische Kommission bereits 2016 eine Reihe von Reformvorschlägen vorgelegt. Diese betrafen unter anderem den „Export“ von Arbeitslosenleistungen, also den Bezug von Arbeitslosengeld durch Wanderarbeitnehmer*innen in ihrem Zielland. Der damals begonnene Reformprozess dauert bis heute an: Seit 2018 verhandeln Parlament, Rat und Kommission die Vorschläge – bisher ohne Durchbruch. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 hat es sich – wie bereits die rumänischen und finnischen Ratspräsidentschaften vor ihr – zum Ziel gesetzt, die Verhandlungen abzuschließen.

883-Verhandlungen: Wo hapert‘s?

In den aktuellen Verhandlungen sind sich Parlament und Rat vor allem in zwei Punkten uneins: beim Bezug von Arbeitslosenleistungen und bei der Anmeldung entsendeter Beschäftigter bei den Behörden des Wohn- bzw. bisherigen Beschäftigungslandes zum Verbleib im dortigen Sozialversicherungssystem.

Bei den Arbeitslosenleistungen konzentriert sich die Auseinandersetzung auf die Anwartschaftszeiten, die erfüllt sein müssen, damit die Grenzgänger*innen, eine spezielle Gruppe der Wanderarbeitnehmer*innen, im Beschäftigungsstaat Anspruch auf Arbeitslosengeld haben. Der Kommissionsvorschlag sieht vor, dass erst nach einer ununterbrochenen Beitragszahlung über mindestens zwölf Monate hinweg ein Anspruch auf Leistungen begründet werden sollte. Das Parlament hält dem entgegen, dass eine derartige Regelung nicht der Realität der Grenzgänger*innen entspreche: Gerade bei grenzüberschreitender Arbeit sind kurzfristige und befristete Arbeitsverhältnisse die Regel und eine ununterbrochene Beschäftigung für zwölf Monate oftmals die Ausnahme.

Dasselbe gilt für Saisonarbeitnehmer*innen, die häufig zwar insgesamt mehr als sechs Monate pro Jahr in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten, deren Zeit im Gastland aber saisonbedingt unterbrochen sein kann. Daher fordert das Europäische Parlament, dass Ansprüche auf Arbeitslosenleistungen für mobile Beschäftigte schon dann bestehen sollen, wenn über die letzten zwei Jahre hinweg insgesamt sechs Monate in einem Gastland tätig waren – ob zusammenhängend oder unterbrochen.

Soziale Absicherung entsendeter Beschäftigter

Ein weiterer Streitpunkt ist die Beantragung der A1-Bescheinigung für entsendete Arbeitnehmer*innen. In der Verordnung 883/2004 ist die Frage, wo die Beschäftigten im Entsendefall sozialversichert sind, klar geregelt. Grundsätzlich besteht Versicherungspflicht im Beschäftigungsstaat. Für die Entsendung gilt die Ausnahme, dass für längstens 24 Monate die Versicherungspflicht im Herkunftsland aufrechterhalten werden kann. Diese Ausnahme ist im Staat der Beschäftigung durch eine sogenannte A1-Bescheinigung nachzuweisen. Leider liegt mit der derzeit bestehenden Möglichkeit, den Antrag für die A1-Bescheinigung nachträglich – also nach Arbeitsbeginn im Ausland – zu beantragen, ein Anreiz zum Missbrauch vor. Das Parlament fordert deshalb, dass bereits vor Beginn einer Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat die A1-Bescheinigung beantragt werden soll. Dann ist diese zwar noch nicht ausgestellt, aber der Nachweis über die Antragstellung kann bei Arbeitsantritt mitgeführt werden. Mit dieser Änderung wäre ein wichtiger Schritt gegen Missbrauch getan.

Von Seiten einiger Mitgliedstaaten wird eingewandt, dass dies eine weitere bürokratische Behinderung des Dienstleistungs- und Warenverkehrs darstelle. Dieses Argument ist jedoch abwegig: Die EU-Staaten sind schon jetzt verpflichtet, die Anmeldung für die A1-Bescheinigung elektronisch zu ermöglichen. Dies ist ein Prozess, der nicht länger dauert als z. B. online ein Bahnticket zu erhalten: Klicke ich auf „kaufen“, erhalte ich das Ticket sofort per E-Mail. Die sofortige Zusendung einer Eingangsbestätigung des Antrags auf eine A1-Bescheinigung sollte den dafür zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten ohne administrativen Aufwand möglich sein. Ist der Vorabantrag gestellt, kann die Beschäftigung sofort aufgenommen werden.

Der Rat will einer solchen Regelung allerdings nur zustimmen, wenn es generelle zeitliche Ausnahmen für einen Antrag auf A1-Bescheinigungen gibt – vor allem für kurze Entsendungen von wenigen Tagen. Im letzten Vorschlag der Kommission ist alternativ eine Ausnahmeregelung für Notsituationen vorgesehen, die den Anwendungsbereich der Regelung jedoch ebenfalls beschränken würdeDenn selbst eine Ausnahme für nur 24 Stunden dauernde Beschäftigungen kann nicht akzeptiert werden, denn der bestehende Anreiz zu Missbrauch bliebe so erhalten: In einem Europa ohne Grenzkontrollen kann kein Nachweis über den Tag der Einreise erbracht werden – und bei Kontrollen kann man somit jederzeit behaupten, erst am Vortag eingereist zu sein und die Arbeit bereits abzuschließen.

Als Ergänzung zur reformierten Entsenderichtlinie ist die Anmeldepflicht im Vorfeld der Entsendung daher ein wichtiger Schritt zum Schutz der Beschäftigten.

Wie geht es weiter?

Nachdem beim letzten Trilog zwischen Parlament, Rat und Kommission keine Einigung in diesen Fragen erzielt worden ist, gehen die Verhandlungen am 7. Dezember in die nächste Runde. Der deutschen Ratspräsidentschaft bleibt damit nicht mehr viel Zeit, einen Kompromiss zu finden – kommt es nächste Woche nicht zu einer Einigung, wird sich wohl auch die nachfolgende portugiesische Ratspräsidentschaft mit der Verordnung 883/2004 beschäftigen müssen.

Der DGB setzt auf einen starken Einsatz des Parlaments in der heißen Phase der Verhandlungen: Für den Anspruch auf Arbeitslosenleistungen im Zielland bedarf es eindeutiger handhabbarer Regelungen für die Beschäftigten. Auch die Anmeldepflicht im Vorfeld der Entsendung darf nicht verhandelbar sein, denn eine Aushebelung der reformierten Entsenderichtlinie durch die Hintertür darf es nicht geben. Nur mit Rechtssicherheit und klaren Regeln kann Sozialversicherungsbetrug wirksam bekämpft und soziale Sicherheit für mobile Beschäftigte garantiert werden.  


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