Deutscher Gewerkschaftsbund

23.06.2020

Multilateralismus am Beatmungsgerät: die Weltgemeinschaft in der Corona-Krise

von Carolin Vollmann und Luisa Maschlanka

Die weltweite Corona-Pandemie verstärkt den Trend nationaler Alleingänge. Die Krise verschlimmert nationale, aber vor allem globale Ungleichgewichte und macht internationale Kooperation wichtiger denn je. Um dem zu begegnen, muss Europa umso mehr mit geeinter Stimme sprechen.

Fahnenmasten mit Flaggen diverser Staaten

Colourbox.de

Die Vereinten Nationen begehen ihr 75-jähriges Jubiläum mit einer Veranstaltung unter dem Motto 'The Future We Want, the UN We Need: Reaffirming our Collective Commitment to Multilateralism'. Das Motto hätte in Zeiten von Corona und einer Rückkehr zum Nationalstaat nicht treffender sein können. Obgleich nicht zuletzt die Corona-Krise globale Antworten und gemeinsame Strategien einfordert, verschärft sie gleichzeitig Nationalisierungs- und Abschottungstendenzen.

Corona - ein Virus vernetzt sich

Die Schnelligkeit, mit der sich das Virus verbreitete, war rasant. Mitte Juni meldet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über 7 Millionen bestätigte Fälle von Covid-19 in 216 Ländern, Territorien und Regionen. Entsprechend sind auch die wirtschaftlichen Folgen schnell zum globalen Problem geworden. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt den globalen Rückgang des Arbeitsvolumens im ersten Halbjahr 2020 auf 10,7 Prozent verglichen mit dem vierten Quartal 2019, was dem Verlust von 305 Millionen Vollzeitstellen entspricht. Der globale Handel wird sich laut der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) im zweiten Quartal 2020 um 26 Prozent verringern. Der Internationale Währungsfonds (IWF) kündigte an, seine Prognosen zum globalen Wachstum weiter nach unten zu korrigieren. Bereits im April hatte dieser eine globale Rezession mit einem Schrumpfen der Weltwirtschaft von 3 Prozent angekündigt. Weiterhin rechnet er damit, dass infolge der Krise das Pro-Kopf-Einkommen in 170 Ländern der Welt sinken wird.

Ungleichheiten treten zutage – national wie international

An vielen Stellen zeigt sich, wie unterschiedlich Arm und Reich von der Krise betroffen sind. Schlechte Wohn- und Arbeitsbedingungen wie auch ein ungleicher Zugang zur Gesundheitsversorgung tragen dazu bei, dass einkommensschwache Gruppen vom Virus und seinen wirtschaftlichen Folgen stärker betroffen sind. In den USA beispielsweise ist die Todesrate unter Afroamerikaner*innen dreimal so hoch wie unter weißen Amerikaner*innen. Brasilien – eines der Länder mit der weltweit höchsten Einkommensungleichheit – stellt mit 37.000 Neuinfektionen an einem Tag einen neuen, traurigen Rekord auf.

Aber auch international treten systemische Ungerechtigkeiten zu tage. Laut der ILO bekommen die Auswirkungen allen voran die 1,6 Milliarden informell Beschäftigten zu spüren, die von Lock-Downs betroffen sind oder in stark angeschlagenen Sektoren arbeiten. Insbesondere der Textilsektor ist hier zu nennen. Allein in Bangladesch stornierten die großen Textilunternehmen bis Mitte April Aufträge im Gesamtvolumen von über 3 Milliarden US-Dollar. In der Folge sind dort mehr als zwei Mio. Näher*innen von Lohneinbußen und Entlassungen betroffen. Da für etwa 55 Prozent der Weltbevölkerung – rund 4 Milliarden Menschen – überhaupt keine Form des Sozialschutzes besteht, bedeutet der Wegfall des Arbeitseinkommens den Kampf ums Überleben. Die UN schätzt, dass sich die Anzahl der Menschen unterhalb der Armutsgrenze von 5,50 US-Dollar am Tag durch die Krise von derzeit etwa 3,2 Milliarden Menschen auf bis zu 3,7 Milliarden erhöhen könnte. Damit wäre die Armutsbekämpfung um 20 bis 30 Jahre zurückgeworfen. Armut ist gleichzeitig einer der wesentlichen Faktoren, der zu Kinderarbeit beiträgt. Laut ILO und UNICEF hatte sich die Anzahl arbeitender Kinder seit 2000 kontinuierlich um insgesamt 94 Millionen verringert. Diese Erfolge könnten durch die Krise zunichte gemacht werden, da nun erneut Millionen von Kindern das Schicksal der Kinderarbeit droht.

Gleichzeitig schwinden die finanziellen Spielräume von Regierungen, gerade in Entwicklungsländern. Das zeigt sich unter anderem in der Zahl der Anfragen beim IWF, den bereits über 100 Regierungen um finanzielle Notfallhilfe gebeten haben. Abgesehen von der schwierigen Gesundheitslage, spitzt sich die Situation durch Investitionsabflüsse, steigende Inflation und Schuldenzahlungen weiter zu. Bereits vor der Krise war der Schuldenstand alles andere als nachhaltig. UNCTAD schätzte, dass sich die privaten und staatlichen Zahlungsverpflichtungen der Entwicklungsländer auf über 180 Prozent ihrer Wirtschaftskraft belaufen. Weiterhin schätzt man die Gelder, die von Entwicklungsländern für den wirtschaftlichen Ausfall und die Folgen der Krise benötigt werden, auf über 2,5 Billionen US-Dollar.

Risse im globalen System

Während die Krise die globale wirtschaftliche und soziale Schieflage verschärft und damit die Notwendigkeit globaler Antworten erhöht, befeuert sie gleichzeitig nationale Abschottungstendenzen und Schuldzuweisungen gegenüber multilateralen Organisationen. Sehr deutlich wurde das am Scheitern der Resolution im UN Sicherheitsrat, die zu einem Waffenstillstand während der Covid-19 Pandemie auffordern sollte. Die USA blockierte die Resolution aufgrund einer Referenz zur WHO: Wie er im Mai ankündigte, beabsichtigt US Präsident Trump den Austritt der USA aus dieser Organisation. Alle bisherigen Vermittlungsversuche scheiterten.

Auch die Erklärung der Staats- und Regierungschefs der G20 zu Covid-19 Ende März gibt wenig Anlass zur Hoffnung. Zwar fand man wohlwollende Worte und erklärte, alles Erdenkliche tun zu wollen, um die Pandemie zu bekämpfen. Dennoch beschränkten sich die internationalen Zusagen in der Hauptsache auf die Stundung (nicht den Erlass) der Schuldenrückzahlungen von 77 einkommensschwachen Ländern bis Ende 2020. Anders als noch zu Zeiten der Finanzkrise, war die Zusage von 5 Billionen US-Dollar zur Unterstützung der globalen Wirtschaft lediglich die Addition der nationalen Stabilisierungsprogramme. Eine globale Strategie der G20 fehlt nahezu vollständig.

Auch bei der Aufgabenverteilung zwischen den internationalen Organisationen wird die Schieflage sichtbar: Die der US Regierung nahestehende Weltbank wird in der Hauptsache mit der Krisenbewältigung in Entwicklungsländern beauftragt und ist entsprechend in der Lage, Gelder im Umfang von 160 Milliarden US-Dollar bereitzustellen. Und auch der IWF verdoppelte seine Notfallfinanzierung auf 100 Milliarden US-Dollar. Zudem verzichtet er für sechs Monate auf die Rückzahlungen von 25 Entwicklungsländer, insgesamt auf 215 Millionen. Die ILO hingegen wird neben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Europa (OECD) lediglich als Beobachter der Auswirkungen auf die Beschäftigung erwähnt.  

Auch die UN ist kein zentraler Kooperationspartner und geht finanziell fast leer aus. Zur Pandemiebekämpfung initiierte Generalsekretär Guterres den COVID-19 Response and Recovery Fund, der mit 2 Millairden US-Dollar für 2 Jahre ausgestattet ist. Aufrufe für weitere Zuwendungen fanden nur wenig Resonanz.

Tod oder Genesung?

Die Risse im System sind keine Neuen und das multilaterale System war auch vor der Krise nicht frei von Schwachstellen. Die Krise hat jedoch dazu geführt, dass es mehr denn je um das Motto der 75-Jahrfeier der UN geht, nämlich darum, welche Zukunft wir möchten und welche multilateralen Institutionen dafür notwendig sind. Zuspruch und Bereitschaft für eine ernsthafte Diskussion darüber sind die Voraussetzungen. Für Deutschland heißt das: Wir müssen Europa stärken und als Europäer*innen die Werte der Europäischen Union auch global vertreten. Im Rahmen der im Juli startenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft hat die Bundesregierung die Gelegenheit, Impulse für eine selbstbewusste und solidarische EU-Außenpolitik zu geben.


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