Verfallklauseln in Arbeitsverträgen, die ab dem 1. Januar 2015 abgeschlossen wurden, gelten nicht für den gesetzlichen Mindestlohn. Das hat das Bundesarbeitsgericht in einem Urteil bestätigt. Doch was können Beschäftigte tun, wenn sie erst später von Mindestlohn-Verstößen erfahren? Und welche gesetzlichen Änderungen sind notwendig?
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Am 18. September 2018 (Az. 9 AZR 162/18) hat das Bundesarbeitsgericht zu Fragen der arbeitsvertraglichen Gestaltung von Verfallsklauseln in Bezug auf das Mindestlohngesetz geurteilt. Nachdem erst einmal die Pressemitteilung vorlag, folgte nun das vollständige Urteil. Danach sind arbeitsvertragliche Verfallklauseln unwirksam, die ab dem 1. Januar 2015 abgeschlossen wurden und entgegen § 3 Satz 1 Mindestlohngesetz den ab dem 1. Januar 2015 zu zahlenden gesetzlichen Mindestlohn nicht ausnehmen.
Mindestlohnansprüche können noch drei Jahre rückwirkend geltend gemacht werden!
Im Mindestlohngesetz ist geregelt, dass Vereinbarungen, die den Anspruch auf Mindestlohn unterschreiten oder seine Geltendmachung beschränken oder ausschließen, unwirksam sind. Eine in einem Arbeitsvertrag geregelte Verfallsfrist ist eine solche Vereinbarung und damit unwirksam, wenn keine Mindestlohnausnahme enthalten ist.
In dem vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall hatten Arbeitnehmer und Arbeitgeber eine wie oben formulierte Klausel im Arbeitsvertrag vereinbart. Nach einer Kündigung durch den Arbeitgeber folgte ein Kündigungsschutzprozess, der mit einem Vergleich beendet wurde. Der Arbeitgeber erfüllte zwar die im Vergleich vorgesehene Auszahlung des ausstehenden Entgelts, nicht jedoch die Abgeltung von 19 Urlaubstagen. Er berief sich darauf, dass der Anspruch auf Urlaubsabgeltung nicht rechtzeitig innerhalb der Ausschlussfrist geltend gemacht worden sei. Das Bundesarbeitsgericht stellte dazu fest, dass der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Abgeltung der restlichen Urlaubstage habe. Die Ausschlussfrist sei nicht wirksam, denn die Verfallsklausel sei nicht klar und verständlich formuliert, weil sie entgegen der Vorgaben aus dem Mindestlohngesetz den ab dem 1. Januar 2015 zu zahlenden gesetzlichen Betrag nicht ausnimmt. Die Klausel könne deshalb auch nicht für den Anspruch auf Urlaubsabgeltung aufrechterhalten werden.
Aufgrund der Unwirksamkeit der oben beschriebenen Verfallklausel können Ansprüche aus dem Mindestlohngesetz im Rahmen der gesetzlichen Verjährung bis zu drei Jahren rückwirkend geltend gemacht werden. Dies kann z.B. dann geschehen, wenn Beschäftigte von Mindestlohnverstößen erst später erfahren oder diese erst später nachweisen können. Kürzer vereinbarte Verfallfristen in Arbeitsverträgen sind unwirksam, auch wenn der Beschäftigte diesen unterschrieben hat.
Dass Mindestlohnverstöße leider nicht nur hypothetische Fälle sind, zeigen Studien deutlich. 2016 bekamen laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) 1,8 Millionen Beschäftigte den Mindestlohn nicht ausgezahlt obwohl sie Anspruch darauf hatten. Rechnet man anstelle der vertraglich vereinbarten mit der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit, steigen die Mindestlohnverstöße noch einmal deutlich auf 2,6 Millionen an.
Dabei gelten diese Mindestlohnverstöße nicht als Kavaliersdelikt und können für den Arbeitgeber mit Geldstrafen bis zu 500.000 Euro empfindlich teuer werden.
Besonders bei der Aufzeichnung der geleisteten Arbeitszeit wird oft getrickst. Das Problem? Die Arbeitszeitvereinbarungen sind häufig intransparent oder inoffiziell gestaltet und die geleisteten Stunden können auch noch bis zu einer eine Woche später aufgezeichnet werden. Das erschwert die Arbeit der zuständigen Prüfbehörde der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) und macht eine Feststellung von Mindestlohnverstößen zur Sisyphusarbeit.
Von diesen Tricksereien besonders betroffen sind Mini-Jobber, Beschäftigte in kleinen Firmen und Ausländerinnen und Ausländer. Frauen wird im Schnitt der Mindestlohn doppelt so häufig vorenthalten wie Männern, genauso wie Beschäftigten im Osten gegenüber ihren westdeutschen Kolleginnen und Kollegen häufiger leer ausgehen.
Verfallklauseln (auch Ausschlussfristen genannt) sind in Arbeitsverträgen meist ganz am Ende des Vertragstextes zu finden. Sie sind bestenfalls überschrieben mit dem Begriff „Verfallfristen“, finden sich aber auch immer noch unter „Sonstiges“. Sollten Verfallklauseln sich hinter „Sonstiges“ oder „Schlussbestimmungen“ in ihrem Arbeitsvertrag verbergen, führt schon das zur Unwirksamkeit, da für Beschäftigte nicht transparent wird, dass ihnen bei Nichtbeachtung der Frist Rechtsansprüche verloren gehen. Verfallsklauseln können zum Beispiel so formuliert sein:
„Alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, verfallen, wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich geltend gemacht werden.“
Wenn sie also merken, dass auf Ihrer Entgeltabrechnung ihr Entgelt oder Zuschläge nicht ordnungsgemäß abgerechnet sind, haben Sie ab dem Zeitpunkt der Fälligkeit – also dem Auszahlungszeitpunkt - drei Monate Zeit, den fehlenden Teil des Entgelts oder der Zuschläge gegenüber Ihrem Arbeitgeber E-Mail, ein Telefax oder eine SMS einzufordern. Tun Sie das nicht innerhalb dieser drei Monate, verfällt ihr Anspruch auf Auszahlung des restlichen Entgelts oder der Zuschläge.
Die Einhaltung des Mindestlohnes ist für die Gewerkschaften auch eine Gerechtigkeitsfrage. Wenn ein Betrieb in Deutschland statistisch 230 Jahre warten muss, um einmal nach der Arbeitszeit kontrolliert zu werden, dann verspielt der Staat Glaubwürdigkeit und stellt seine eigene Handlungsfähigkeit in Frage.
Bereits zum Beschluss des Mindestlohngesetzes stellte der Gesetzgeber für die Arbeit der FKS 10.000 Stellen in Aussicht. Zum Stichtag 1. Januar 2018 verfügt die FKS lediglich über 7.211 Planstellen, von denen jedoch nur 6.453 besetzt sind. Die FKS hat nach wie vor viel zu wenig Personal, um eine angemessene bundesweite Abdeckung und eine kontinuierlich hohe Prüfdichte zu gewährleisten. Dabei zeigen die millionenfach festgestellten Mindestlohnverstöße wie wichtig eine intensive Prüfung und wie dringlich eine Aufstockung des Personals ist.
Die Dokumentationspflichten lassen zu viel Spielraum für Manipulation, so dass die Regelungen ausgebaut werden müssen. Arbeitgeber müssen verpflichtet werden zukünftig den Beginn der täglichen Arbeitszeit der Beschäftigten jeweils unmittelbar bei Arbeitsaufnahme sowie Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit jeweils am Tag der Arbeitsleistung aufzuzeichnen.
Die Zahlung des Mindestlohnes ist Ausdruck des Rechts auf Menschenwürde und der Anspruch darauf muss deshalb für jede und jeden gelten. Ausnahmen beim gesetzlichen Mindestlohn sind nicht nur ungerechtfertigt, sie öffnen kreativen Arbeitgebern Tür und Tor, um den Mindestlohn zu umgehen. Deshalb setzen sich der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften auch weiterhin für einen gesetzlichen Mindestlohn für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein und fordern die Abschaffung der Ausnahmen, wie etwa bei Langzeitarbeitslosen, Jugendlichen unter 18 Jahren oder Praktika. Diese Ausnahmen sind nicht nur gesellschaftspolitisch der falsche Weg, sondern laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) auch arbeitsmarktpolitisch wirkungslos. Außerdem sollten arbeitnehmerähnliche Personen in das Mindestlohngesetz einbezogen werden. Das verhindert einen sozialschädlichen Unterbietungswettbewerb, wenn zugleich die Auftraggeber verpflichtet werden, einen Zuschlag in Höhe des Arbeitgeber-Anteils zu den Sozialversicherungsbeiträgen pro Stunde zu zahlen und ein Stundenhonorar vereinbart ist.
Mindestlöhne können nicht für gute Arbeit sorgen und sind nicht ausreichend für soziale Teilhabe. Kein Mensch sollte in Deutschland lediglich zum gesetzlichen Mindestlohn arbeiten. Gute Arbeit gibt es nur mit Tarifverträgen. Gute und möglichst umfassend geltende Tarifverträge sind für Beschäftigte das wichtigste Instrument zur Regelung der Entgelt- und Arbeitsbedingungen. Sie stehen für Innovation und Erfahrung und sorgen für Umverteilung und Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung. Damit tragen sie entscheidend zu einer sozialen und fortschrittlichen Gestaltung der Arbeits- und Wettbewerbsbedingungen bei.
Wichtigstes Ziel muss es deshalb sein, die flächendeckende Wirkung von Tarifverträgen zu stärken und wieder auszubauen. Dies betrifft Maßnahmen, die den Grad der Tarifbindung erhöhen, die Verbandsmitgliedschaft auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite stärken und die Tarifflucht erschweren. Zudem sollte die Attraktivität einer Mitgliedschaft sowohl in den Gewerkschaften wie in den Arbeitgeberverbänden durch geeignete Regelungen gesteigert werden.