Deutscher Gewerkschaftsbund

01.11.2013
Interview

Michael Sommer: „Es wird weiterhin gequält und gestorben“

DFB und DGB wollen bessere Arbeitsbedingungen auf den Baustellen der Fußball-WM in Katar. Wenn Diskriminierung und Zwangsarbeit nicht beseitigt werden, müsse man Katar die WM wegnehmen, sagt  Michael Sommer. In der Süddeutschen Zeitung spricht er zudem über die Koalitionsverhandlungen und den Mindestlohn: „Die 8,50 Euro müssen stehen“.

Süddeutsche Zeitung: Wie geht's Ihnen?

Michael Sommer: Mir geht's wieder ganz gut. Ich hab' noch ein paar Schmerzen, aber ich werde in der Charité gut behandelt. Und meiner Frau geht's wieder fast so wie damals, als wir geheiratet haben. Die Ärzte sagen, mit meiner Niere kann sie 20, 25 Jahre weiterleben und dabei noch eine hohe Lebensqualität genießen. Das ist ein unglaubliches Geschenk, nicht von mir, sondern von der Medizin und der pharmazeutischen Industrie. Was die heute möglich machen, wäre noch vor 25 Jahren undenkbar gewesen.

Portrait Michael Sommer

DGB/Plambeck

Michael Sommer: "Die Fifa soll auf die Kataris einwirken, dass sie entweder die Mindeststandards der ILO garantieren, Oder ihnen wird die WM weggenommen."

Gab es Kritik oder zumindest Gegrummel im DGB, dass der Chef sich in der Endphase des Bundestagswahlkampfs ausklinkt?

Ich habe die Gewerkschaften da wirklich als Familie erlebt. Am 5. September war mein letzter Arbeitstag. Rundum bin ich auf Verständnis, Sympathie und Unterstützung gestoßen.

Aber Sie werden  bestimmt nicht nur auf der Couch gelegen haben. So was halten Sie doch gar nicht aus.

Na ja, ich habe mich von einem schweren Eingriff erholt, das braucht nun mal seine Zeit, bei jedem. Aber natürlich habe ich telefoniert. Außerdem hat sich der eine oder andere Spitzenpolitiker gemeldet, und die erste Hälfte des Gesprächs war meistens: Wie geht's Ihnen und Ihrer Frau? Und dann hieß es, ach, wo wir gerade miteinander reden, lassen Sie uns doch noch kurz...

Haben Sie auch die Erfahrung gemacht, die viele in persönlich ernsten Zeiten machen: dass sich Menschen melden, von denen man es nicht erwartet hätte - und umgekehrt?

Ja.

Sie schauen gerade so, als ob Sie sich weitere Bemerkungen gerade verkneifen.

Ja.

Bestimmt hat sich jemand von der FDP gemeldet.

Ja. Zum Beispiel Bahr und Brüderle.

Als Laie denkt man: Sommer hat sich noch mehr aufgeopfert als Steinmeier. Ihnen wurden schließlich vor zwei Jahren vier Fünftel des Magens und die Galle entfernt.

Nun, ich bin vor der Transplantation sehr gründlich untersucht worden. Um jedes Risiko auszuschließen. Am Schluss gab es auch eine psychologische Untersuchung, und vor eine Ethikkommission musste ich auch, wie jeder, der in Deutschland ein Organ spenden möchte. Die will bestätigt haben, dass man das wirklich freiwillig tut.

 Kann man ohne 2,8 Organe ganz normal weiterleben?

Ja natürlich. Deswegen kann ich jeden nur aufrufen, sich ernsthaft zu prüfen, wie er oder sie zu dem Thema steht. Wir sind übrigens auch in unserer Familie nicht einer Meinung. Meine Frau sieht die Totenspende sehr kritisch, ich habe einen Organspendeausweis.

Wo waren Sie am 22. September, dem Wahltag, um 18 Uhr?

Das war fünf Tage nach der Transplantation. Ich durfte kurz aus dem Krankenhaus, um unsere Tochter zum Flughafen zu fahren. Dann bin ich zurück, und um 18.00 Uhr haben wir das Ergebnis zusammen vor dem Fernseher gesehen.

Ging's dem SPD-Ehepaar Sommer daraufhin besser oder schlechter?

Sagen wir mal, wir waren nicht wirklich überrascht. Viele Gewerkschaftsmitglieder haben das Programm der SPD zwar sehr positiv wahrgenommen, der Partei aber nicht unbedingt geglaubt, dass sie später das auch einlösen wird. Fakt ist doch: Die SPD hat verloren, nachdem sie mit Rot-Grün die Agenda 2010 gemacht hat; sie hat 2009 verloren, als sie in der großen Koalition die Rente mit 67 durchgesetzt hat; und nun hat sie aus der Opposition heraus auch nicht gewonnen. Ob man daraus ableiten kann, dass man automatisch den Todeskuss kriegt, wenn man mit der Union in einer  Koalition ist, wage ich mal zu bezweifeln.

Warum haben eigentlich fast genauso viele Gewerkschafter die Union gewählt wie die SPD – obwohl der DGB und mehrere Gewerkschaften vor der Wahl darauf hingewiesen haben, dass im CDU/CSU-Programm wenig von all Ihren Forderungen stand?

Ich denke, eine Erklärung heißt: Merkel. Das war auch eine Persönlichkeitswahl. Diese Kanzlerin verkörpert Pragmatismus, Nüchternheit, Uneitelkeit. Das wollen die Leute.

Aus Ihrer Sicht heißt das: Vielen Wählern ist die Form wichtiger als der Inhalt.

Ja. Und darüber hinaus hat Merkel offenbar nach Meinung vieler das Land in der Krise vor dem Abrutschen bewahrt.

"Die 8,50 Euro müssen stehen, flächendeckend, und ohne Ausnahme"

Es gibt viele Sozialdemokraten, die wollen lieber auf 100 Prozent des Wahlprogramms verzichten, anstatt bloß 40 oder 50 Prozent davon durchzusetzen.

Na ja. Die fragen sich vor allem: Wie kann ich nach diesem Wahlergebnis möglichst viel von dem, was ich für richtig halte, durchsetzen ohne zugleich meine Seele zu verlieren? Als Sozialdemokrat verstehe ich das sehr gut, aber als DGB-Vorsitzender ist es vor allem meine Aufgabe, die Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen durchzusetzen. Und nun stehen wir kurz davor, dass aus vielen langjährigen Forderungen Wirklichkeit wird. Deswegen müssen die Sozialdemokraten unbedingt versuchen, diese Koalition hinzukriegen.

Und das erste darin muss ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro sein, der von Weihnachten an überall gültig ist?

Die 8,50 Euro müssen stehen, flächendeckend, und ohne Ausnahme, auch nicht nach Region oder Alter. Es ist doch Unsinn, zum Beispiel die Jungen auszunehmen. Dann gäbe es nur wieder Drehtüreffekte: Alte raus, Junge rein.

Lehnen Sie auch eine stufenweise Einführung ab?

Wir fordern 8,50 Euro die Stunde, flächendeckend, für alle, und möglichst sofort. Aber die 8,50 Euro sind das erste von drei Kriterien, an denen ich die Große Koalition in der Arbeitsmarktpolitik messen werde. Das zweite: dass sich kein Arbeitgeber mehr um Tarifverträge herumdrücken kann. Es muss leichter werden, diese für allgemein verbindlich zu erklären, so dass sie auch für diejenigen Firmen gelten, die sich die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband sparen.

Bisher muss ein Tarifvertrag ja für mindestens 50 Prozent der Arbeitnehmer einer Branche gültig sein, damit die Regierung ihn für allgemein verbindlich erklären kann. Dieses Quorum könnte man senken.

„Und drittens?

Drittens brauchen wir Regelungen gegen den Missbrauch von atypischen Beschäftigungsverhältnissen, wie zum Beispiel Werkverträge und Leiharbeit, und wir brauchen hier mehr Mitbestimmung der Betriebsräte.“

Manchmal erwecken die Gewerkschaften den Eindruck, als hätten sie generell etwas gegen Werkverträge.

Nein, die gibt es landauf, landab. Auch der DGB nutzt das Instrument.

Stimmt, unten am Empfang sitzen nette Damen der Dienstleistungsfirma Wisag.

Richtig, wir haben ein Gewerk ausgegliedert, die Sicherheit und die Haustechnik. Aber in unserem Vertrag mit Wisag steht, dass der Tarifvertrag angewandt wird. Wir haben uns die Arbeitsverträge mit deren Mitarbeitern zeigen lassen. Also, wir haben nichts gegen Werkverträge. Nur man muss klar definieren, wann ein Arbeitnehmer so sehr Teil eines Betriebs ist, dass er unmittelbar dessen Beschäftigter sein muss. Und der Betriebsrat muss beim Einsatz mitbestimmen dürfen.

Merkel hat bereits erklärt: Betriebsräte müssen wissen, was in der Firma passiert.

Ja.

"Wissen müssen" ist Ihnen bestimmt zu wenig.

Informiert werden reicht nicht. Wir wollen echte Mitbestimmung. Seit Arbeitsminister Norbert Blüm in den achtziger Jahren ist den Arbeitnehmern immer mehr genommen worden. Seitdem werden Schutzrechte auf breiter Front ausgehöhlt, die Tarifautonomie in ihrer Gestaltungskraft geschwächt und der Niedriglohnsektor millionenfach ausgeweitet. Nun brauchen wir eine neue Sicherheitsarchitektur für gute Arbeit.  Wir brauchen Mindestlohn und Allgemeinverbindlichkeit, Mitbestimmung und eine Sicherung der Tarifautonomie. Wenn diese neue Ordnung der Arbeit steht, dann können wir, Gewerkschaften und Arbeitgeber, uns auf die Auseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapitel konzentrieren - ohne ständig auf die Politik zu schielen. Da müssen wir wieder hinkommen.

Sie sind auch Chef  des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB). Die Organisation hat vor vier Wochen auf die Bedingungen an den WM-Baustellen in Katar aufmerksam gemacht, wo allein von Juni bis August 44 Gastarbeiter ums Leben kamen. Hat sich die Lage inzwischen gebessert?

Es wird weiterhin gequält und gestorben. DFB-Präsident Wolfgang Niersbach und ich haben nun verabredet, dass jeder seine Leute mobilisiert: Er schreibt die 24 Mitglieder des Fifa-Exekutivkomitees an, ich wende mich an die Vorsitzenden der Gewerkschaftsbünde in den Ländern, aus denen diese Mitglieder kommen. Eben, bevor Sie kamen, habe ich einen Brief an meinen chinesischen Amtskollegen unterschrieben, damit der an den Präsidenten seines Fußballverbands herantritt, der im Exekutivkomitee ist. Herr Niersbach und ich haben uns maximal sechs Wochen gegeben. Dann sichten wir die Ergebnisse unserer Aktion und gehen auf die Fifa los.

Was heißt denn das?

Die Fifa soll auf die Kataris einwirken, dass sie entweder die Mindeststandards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) garantieren, also unter anderem Diskriminierung und Zwangsarbeit beseitigen sowie Gewerkschaften zulassen. Oder ihnen wird die WM weggenommen.

Haben Sie mal mit Fifa-Chef Joseph Blatter gesprochen?

Ich bin noch nicht an ihn rangekommen. Deshalb ja der Weg über Niersbach. Wir müssen Mehrheiten finden, um Druck auf die Fifa auszuüben.

Blatter sind Arbeitsbedingungen in Katar doch wurscht.

Das glaube ich auch. Niersbach jedoch nicht. Fußball ist ein Volkssport, und der Sport hat gesellschaftliche Verantwortung. Ich weiß nicht, wie weit wir kommen werden. Aber wir Gewerkschafter haben einen langen Atem.

Das Interview führte Detlef Esslinger, Süddeutsche Zeitung, 31.10.2013


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