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Die Europäische Union hat viel für ArbeitnehmerInnen und ihre Rechte getan. Leider kommt diese Botschaft nicht überall an. Verschiedene Initiativen wollen für mehr Transparenz sorgen und zeigen, welche Projekte und Vorhaben die EU vorangebracht hat.
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Wer heute den Begriff „Bisex-Tarif“ hört, dem fällt vermutlich allerlei ein, nur das wahrscheinlich nicht: Dass es vor wenigen Jahren für Frauen noch wesentlich teurer war als für Männer, sich in der Krankenkasse zu versichern. Für Männer war dafür die KFZ-Versicherung wesentlich teurer. Der Grund für die unterschiedlichen, so genannten Bisex-Tarife: Es gebe ja auch unterschiedliche „Risikofaktoren“, argumentierten die Versicherungen – Frauen lebten zum Beispiel statistisch gesehen länger. Und Männer hätten nun mal durchschnittlich mehr Autounfälle.
2012 war Schluss mit neuen Bisex-Tarifen. Der Europäische Gerichtshof schrieb 2011 in einem Urteil den Versicherungen für alle Neuverträge geschlechtsneutrale Unisex-Tarife vor. Das Gericht berief sich dabei auf die EU-Gleichstellungsrichtlinie von 2004. Das Geschrei der Versicherungen war groß – aber seitdem sind Frauen und Männer europaweit bei Versicherungen gleichgestellt.
Das Beispiel zeigt: Die Mühlen der EU mahlen langsam, aber sie mahlen. Und vieles, was mit der Europäischen Union für die Menschen erreicht wurde, ist schon so sehr Gewohnheit und Alltagsrecht geworden, dass es den Menschen gar nicht mehr bewusst ist, wie sehr und wie lange um dieses oder jenes EU-Recht damals gestritten wurde. Richtig ist: Die EU-Politik hat Arbeits- und Lebenswelt der europäischen Bürgerinnen und Bürger weit mehr verändert als nur durch die vielgerühmte Personenfreizügigkeit oder die Währungsunion mit dem Euro, die beiden Beispiele, die immer fallen, wenn es um Vorteile der EU-Gemeinschaft geht.
Schon die Freizügigkeit umschließt weit mehr als Urlaubs- und Geschäftsreisen ohne Pass und Grenzkontrollen, und den freien Warenhandel: So können Unternehmen aus EU-Ländern, die sich im Nachbarland niederlassen wollen, oder ArbeitnehmerInnen, die einen Job im europäischen Ausland antreten wollen, frei wählen und mit wenig Aufwand loslegen – weil sie sich auf europaweit geltende Regeln und Gesetze berufen können.
Und so sichert beispielsweise auch das europäische Sozialrecht, dass tausende deutsche RentnerInnen, die ihren Lebensabend in einem andere EU-Land genießen wollen, ihre Rente überwiesen bekommen. Sie können sich dazu sicher sein, dass die Medikamente, die sie kaufen, überall gleich sind, weil es eine europäische Qualitätskontrolle und ein zentralisiertes Genehmigungsverfahren gibt.
Schwieriger wird es in der Union oft, wenn es um Unternehmen geht, besonders um Arbeitsplätze, Arbeitsbedingungen, Löhne, Rechte, wenn über Insolvenzen, Betriebsübergänge und Entlassungen gestritten wird. Auch hier hat die Europäische Union zahlreiche Richtlinien aufgestellt, die die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sichern. So hat die Union klare Vorgaben zu Wochenarbeitszeit, Anspruch auf Ruhezeiten und Urlaub gemacht. Europaweit darf langfristig nicht mehr als 48 Stunden an insgesamt 6 Werktagen gearbeitet werden, Deutschland hat diese Richtlinie 1994 in nationales Recht umgesetzt. Wenn Österreich 60 Stunden Wochenarbeitszeit zulässt, muss ins Kleingedruckte geschaut werden – solche Arbeitszeiten darf es nur für kurze Zeit geben.
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Die Vorgaben durchzusetzen ist jedoch häufig ein Kampf vor Gerichten um die Spielräume, die die Richtlinien oder darauf beruhende nationale Gesetzgebungen lassen. Doch immer wieder gewinnen die Beschäftigten. So hoffte 2012 die österreichische Fluglinie Austria Airlines (AUA), mit einer Übertragung des Betriebs auf die Tyrolean Airlines kräftig sparen zu können: Rund 460 Piloten und 1500 Flugbegleiter sollten durch den Übergang in den Kollektivvertrag der Tyrolean wechseln, mit wesentlich schlechteren Bedingungen. Doch die AUA hatte sich verkalkuliert: Dank der heftigen Proteste der Beschäftigten landete der Übergang erst vor nationalen Gerichten, dann vor dem Europäischen Gerichtshof. Dieser entschied 2014, dass der alte Kollektivvertrag mindestens ein Jahr nachzugelten hat – und zwar zu den alten, und damit besseren Bedingungen und Löhnen, ganz so, wie es die Richtlinie 2001/23/EG festlegt.
Und die EU hält durchaus mit gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt: Seit 2014 hat die Union neue Vergaberichtlinien für öffentliche Aufträge festgelegt, die sozial und ökologisch handelnde Arbeitgeber fördern. Danach erhält nicht mehr, wie früher, automatisch der billigste Anbieter den Zuschlag, es können auch soziale und ökologische Kriterien einfließen. Die Richtlinie wirkt: Als sich die Regio Post in Landau weigerte, im Auftrag der Stadt Landau den Mindestlohn an die Beschäftigten zu zahlen, verlor das Unternehmen 2015 wegen dieser Richtlinie vor dem Europäischen Gerichtshof.
Dabei geht es nicht nur um Richtlinien und Gesetze sondern auch um Geld für Programme und Projekte. Als 2017 der „Spiegel“ hinter dem europäischen 315 Milliarden Euro schweren Investitionsprogramm von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hinterherrecherchierte, nannten die Autoren das Programm „kühn“: Es habe in zwei Jahren 290 000 Unternehmen in 27 Ländern zu Krediten und 100 000 Menschen zu neuen Jobs verholfen.
In Großbritannien hat diese Wissenslücke im vergangenen Jahr ein Team von Netzexperten auf den Plan gerufen. Auf der Webseite https://myeu.uk sind mittlerweile Tausende Projekte eingezeichnet, wo, wieviel, wohin und aus welchem Topf EU-Geld geflossen ist – ob Millionen Pfund für Jugendprojekte nach Manchester oder die Hafensanierung auf den Scilly Islands. Ständig werden neue Projekte und Projektbeschreibungen nachgemeldet. Auch die EU-Kommission hat festgestellt, dass sie mehr und besser für sich werben muss. Seit November 2018 können auf der Seite https://what-europe-does-for-me.eu/de/portal europaweit beispielhaft Projekte und eben jene Richtlinien gesucht werden. Mitunter hapert es noch ein wenig mit Sprachen und Links, doch das Spektrum ist dafür europäisch und breit.
So führt die Kommission für deutsche Interessierte unter der Rubrik „In meinem Leben“ die Unterstützung für verschiedenste Gruppen und Branchen auf – von generellen Vorgaben für ArbeitnehmerInnen bis zu spezifischen Hilfen für Schweinezüchter oder Astronomen. Darunter finden sich auch Informationen zu der zentralen Richtlinie zur Entsendung von ArbeitnehmerInnen. Die Richtlinie, 2018 frisch reformiert, soll gewährleisten, dass Beschäftigte, die in andere EU-Mitgliedsländer entsandt werden – wie häufig in der Logistik, auf dem Bau, oder als Reinigungskräfte – dort zu anständigen Arbeitsbedingungen beschäftigt werden und vor allem Lohndumping verhindert wird.
Wie oft Unternehmen versuchen, diese Vorgaben zu umgehen, und wie sehr angemessene Kontrollen dazu fehlen, zeigen Berichte aus 2018. Im Frühjahr des Jahres klagte ein tschechischer LKW-Fahrer in Bonn gegen die Deutsche Post. Der Fahrer fuhr für ein tschechisches Subunternehmen Aufträge der Post hauptsächlich in Deutschland aus – und wusste lange nicht, dass ihm dafür der deutsche Mindestlohn zusteht. Sein Lohn lag weit niedriger. Erst ein Infoblatt und die Beratung durch das DGB-Projekt „Faire Mobilität“ klärte ihn auf – und er zog vors Gericht. Kurz vor dem Urteil einigten sich die Post und der Fahrer auf eine deftige Nachzahlung. Im Herbst 2018 geriet dann ein komplexes Flechtwerk von Unternehmern in die Schlagzeilen, weil aus den Philippinen angeheuerte LKW-Fahrer monatelang unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten und leben mussten – hier wurde Strafanzeige wegen ausbeuterischer Arbeit, Zwangsarbeit und Menschenhandel erstattet.
Schon jetzt sind solche Bedingungen eindeutig verboten, ab 2020 gilt zudem ein Rechtsanspruch auf den gleichen Lohn wie Einheimische. Doch wo kein Kläger, da kein Richter: Wenn Beschäftigte nicht wissen, welche Rechte ihnen zustehen, und EU-Mitgliedsländer nicht scharf kontrollieren, werden Richtlinien und Gesetze, so gut sie sind, immer wieder unterlaufen.
Auch deswegen fordern Gewerkschaften, dass die grundsätzliche politische Ausrichtung der Europäischen Union eine andere werden muss. „Wir brauchen ein soziales Fortschrittsprotokoll, um den sozialen Grundrechten in der Europäischen Union mehr Gewicht zu verleihen und den Mitgliedstaaten endlich die Möglichkeit zu geben, wirksam gegen Sozial- und Lohndumping vorzugehen“, fordert der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann.
Denn, gute Richtlinien für Beschäftigte hin oder her, noch haben wirtschaftliche Freiheiten Vorrang in der Europäischen Union. Ein soziales Fortschrittsprotokoll soll das ändern. So soll zum Beispiel im Primärrecht klargestellt werden, dass weder die wirtschaftlichen Freiheiten des Binnenmarktes noch die Wettbewerbsregeln mehr gelten als soziale Grundrechte. Im Konfliktfall müssten die sozialen Grundrechte Vorrang haben, fordern die Gewerkschaften. Sie waren es auch, die sich 2017 massiv – und erfolgreich – dafür eingesetzt haben, dass die Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) aufgestellt wird. Doch diese Schritte allein werden nicht reichen, ebenso wenig wie der politische Druck der Gewerkschaften. Mehr ändern wird sich nur, wenn EuropäerInnen ihr wichtigstes Recht wahrnehmen: Die Wahl für ein arbeitnehmerfreundliches, soziales Europa am 26. Mai.