Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) trägt seit vielen Jahren zur Dominanz der Marktfreiheiten über soziale Rechte in der EU bei. Doch das Verhältnis des EuGH zu sozialer Regulierung ist keineswegs eindeutig: In jenen Bereichen, in denen es europäische Mindeststandards gibt, ist der Liberalisierungsdruck des EuGH weit weniger stark. Kann dies ein Weg sein, den EuGH zu zähmen?
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Die Verpflichtung zur Zahlung eines Mindestentgelts durch nationale Rechtsvorschriften sei eine unzulässige wirtschaftliche Belastung und daher nicht mit dem EU-Binnenmarkt vereinbar, so der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem Urteil von 2014. Fünf Jahre später führt ein Generalanwalt am EuGH aus: Was für die einen Sozialdumping sei, bedeute für andere ganz einfach einen Job. Anders gesagt: Sozial sei, was Arbeit schaffe.
Durch diese Art der Rechtsprechung trägt der Europäische Gerichtshof (EuGH) seit vielen Jahren zur Dominanz wirtschaftlicher Freiheiten über soziale Rechte in der Europäischen Union bei. Doch das Verhältnis des EuGH zu sozialer Regulierung ist keineswegs so eindeutig, wie es bisweilen dargestellt wird. Neben all seinen „Risiken und Nebenwirkungen“ stellt der EuGH auch im sozialpolitischen Bereich eine große Chance dar, die es zu verstehen und schließlich zu ergreifen gilt. Denn wenn der notwendige politische Wille seitens der Mitgliedstaaten vorhanden ist, kann der EuGH zum Hüter der sozialen Rechte in Europa werden.
Die wirtschaftlichen Freiheiten – Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit, sowie freier Waren- und Kapitalverkehr – genießen aufgrund der vom EuGH entwickelten ständigen Rechtsprechung Verfassungsrang, an dem sich die sozialen Rechte messen lassen müssen. Letztere sind durch Titel IV der Charta der Grundrechte der EU zwar ebenso primärrechtlich verankert, werden vom EuGH aber selten bis gar nicht zur Rechtfertigung für die Einschränkung wirtschaftlicher Freiheiten herangezogen. Dies führt zu einer funktionalen Dominanz des Wirtschaftlichen über das Soziale, die letztlich in einem „Liberalisierungsimpuls“ des EuGH mündet: Unter Verweis darauf, dass nationale Schutzrechte von Beschäftigten oder Konsument*innen Handelshemmnisse auf dem Binnenmarkt darstellten, nutzen an Deregulierung interessierte Akteure den EuGH, um „über die Bande“ des EU-Rechts bestimmte Sozialpolitiken der Mitgliedstaaten auszuhebeln.
Angesichts dieser Rechtsprechungspraxis könnte angenommen werden, dass der EuGH eine Voreingenommenheit zugunsten der wirtschaftlichen Freiheiten auf dem Binnenmarkt aufweist, d.h. ganz bewusst im Sinne von marktwirtschaftlicher Deregulierung und gegen sozialen Schutz entscheidet. Um diese Annahme zu überprüfen, haben wir den Einfluss bzw. die korrigierende Wirkung der EuGH-Rechtsprechung auf die verschiedenen sozialstaatlichen Modelle der EU-Mitgliedstaaten untersucht. Wenn der EuGH tatsächlich eine strukturelle „Bevorzugung“ der marktwirtschaftlichen Freiheiten vornimmt, so müssten manche Wohlfahrtsstaats-Modelle mehr unter seiner Rechtsprechung „leiden“ als andere – je nachdem, wie stark soziale Rechte in den jeweiligen Systemen verankert sind.
In einer vergleichenden Analyse von vier Mitgliedstaaten, die jeweils einem der vier in Europa vorherrschenden Wohlfahrtsstaats-Modelle angehören, haben wir versucht, die Zusammenhänge zwischen sozialstaatlichen Regimetypen und den Wirkungen der EuGH-Rechtsprechung im Bereich des Sozialrechts aufzudecken (siehe Beitrag in der Fachzeitschrift Soziale Sicherheit, Ausgabe 10/19, S. 378-382).
Das Ergebnis unserer Untersuchung: Ein robuster, struktureller Zusammenhang zwischen der Wirkung der EuGH-Rechtsprechung und dem Wohlfahrtsstaatsregime eines Mitgliedstaates konnte nicht bestätigt werden. Alles weist also darauf hin, dass die Erklärung für die jeweilige Rolle des EuGH anderswo zu finden sein muss. Wir formulierten unsere Annahme daher neu und gingen davon aus, dass es sich beim erklärenden Faktor um den betreffenden Rechtsbereich handelt und um die Frage, ob dieser auf europäischer Ebene harmonisiert ist oder nicht.
Um diese neue Annahme überprüfen zu können, haben wir die Rechtsprechung des EuGH in den europäisch harmonisierten Bereichen der Sozialpolitik mit den Feldern verglichen, in denen EU-Harmonisierung dezidiert ausgeschlossen ist.
Zu den sozialpolitisch relevanten Bereichen, in denen es gemeinsame europäische Regelungen gibt, zählen vor allem das Allgemeine Diskriminierungsverbot (in Bezug auf Nationalität, Geschlecht, Alter u.v.m.), die Sicherstellung von Ansprüchen und Leistungen der sozialen Sicherheit für Wanderarbeitnehmer*innen, Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutz sowie die Rechte entsendeter Beschäftigter und die Bereiche Wochenarbeitszeit, Urlaub und Ruhezeiten.
In all diesen Bereichen hat sich der EuGH in der Vergangenheit als strenger Mahner und Verteidiger des europäischen Acquis gegen nationale Alleingänge erwiesen. Vor allem bei der Durchsetzung des Diskriminierungsverbots aufgrund von Nationalität auf dem Arbeitsmarkt und der gleichen Bezahlung von Männern und Frauen haben sich die Luxemburger Richter*innen in herausragender Weise um die Geltendmachung sozialer Rechte in Europa verdient gemacht.
Auf der anderen Seite stehen die nicht harmonisierten Sozialpolitikfelder, allen voran das Koalitions- und Streikrecht, der Bereich Arbeitsentgelt sowie die Höhe von Sozialleistungen (z.B. der Grundsicherung). Hier belegen verschiedene Fälle und Urteile unsere neue Annahme: Der „Liberalisierungsimpuls“ des EuGH drückt sich immer dann aus, wenn ihm durch mangelnde gesetzliche Harmonisierung auf EU-Ebene die Möglichkeit dazu gegeben wird. Entscheidend für die „Richtung“ der EuGH-Sozialrechtsprechung ist also das Vorhandensein europäischer Mindeststandards in den relevanten Rechtsbereichen.
Die Lösung liegt somit nahe: Wenn wir den EuGH „zähmen“ bzw. sozialisieren wollen, dann müssen wir in mehr sozialpolitischen Rechtsbereichen europäische Standards schaffen. Anders herum heißt das: In einer EU, in der die Sozialgesetzgebung auf Unionsebene harmonisiert sind, kann der EuGH eine scharfe Waffe gegen die soziale Ungleichheit zwischen den Mitgliedstaaten werden.
Wie aber können wir sicherstellen, dass eine EU-weite Harmonisierung im sozialpolitischen Bereich nicht in einer Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner endet? Aus Sicht der Gewerkschaften besteht die Antwort auf diese berechtigte Sorge in der Verabschiedung eines Sozialen Fortschrittsprotokolls. Sein Prinzip ist klar definiert: Soziale Rechte sollen gegenüber den wirtschaftlichen Freiheiten nicht länger zurückstecken müssen, sondern Vorrang erhalten. Für den EuGH würde dies bedeuten, dass Lohnregelungen sowie der Schutz sozialer Rechte und kollektiver Arbeitsrechte nicht mehr als Verletzung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten ausgelegt werden dürften. Verbunden werden muss dieses Aufwärtskonvergenzgebot unbedingt mit einem Regressionsverbot in sozialen Fragen, sodass schon bestehende gute Standards künftig nicht wieder zur Disposition stehen.
Die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament haben es in der Hand, diese mutige Vision eines wahrhaft europäischen Wohlfahrtsstaats-Modells Wirklichkeit werden zu lassen. Die Umsetzung ist eine Frage des politischen Willens. Macht sich die neue EU-Kommission diese Agenda zu eigen, kann sie Historisches leisten: Aus dem Wettbewerb zwischen den Sozialstaaten kann eine gemeinsame Suche nach Lösungen werden. Statt Sozialdumping zu bekämpfen, könnten wir uns dann darauf konzentrieren, eine sozial gerechtere Union zu gestalten.