Deutscher Gewerkschaftsbund

18.07.2019

100 Jahre Internationale Arbeitsorganisation: Katerstimmung nach dem Geburtstag

von Jannis Grimm, Friedrich-Ebert-Stiftung

Die Internationale Arbeitsorganisation feiert 2019 ihren 100. Geburtstag. Aus diesem Anlass wurde Ende Juni auf der Internationalen Arbeitskonferenz eine Jahrhunderterklärung verabschiedet. Die traurige Erkenntnis: Arbeiter*innenrechte werden weltweit abgewickelt, multilaterale Organisationen straucheln. Doch es gibt auch Lichtblicke.

Schriftzug 100 Jahre ILO 1919 bis 2019

ILO

Am Nachmittag des 20. Juni 2019 kommt endlich der Durchbruch bei der Internationalen Arbeitskonferenz (IAK) in Genf: Regierungen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmer*innen haben sich auf eine gemeinsame Jahrhunderterklärung geeinigt. Über den Dächern des Genfer Völkerbundpalasts steigt zwar kein weißer Rauch auf. Dennoch enthält die Jahrhunderterklärung vor allem eines: Viel heiße Luft. Statt einer klaren Vision für die Regulierung von Arbeitsverhältnissen im nächsten Jahrhundert dominieren ambivalente Formulierungen. Oftmals fallen sie weit hinter bereits bestehende Sprechregelungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zurück.

Eine ambitionierte Agenda zum Umgang mit den Veränderungen in der Arbeitswelt, mit Digitalisierung, mit der Zunahme von informeller und Plattformarbeit sucht man in dem Papier vergebens. Hier und dort wurden zwar bedeutsame Schlagworte eingestreut: soziale Gerechtigkeit, Gute Arbeit, Umwelt, Demokratie, Ungleichheit etc. Insgesamt liest sich die Erklärung aber wie ein Sammelsurium vieler im Kern nicht falscher Elemente ohne klare Stoßrichtung. Ein Vorschlag zur Regulierung von Plattformarbeit oder zum Umgang mit den Auswirkungen des Klimawandels auf die Zukunft der Arbeit? Der Kampf für Geschlechtergerechtigkeit? Ein klares Bekenntnis zum grundlegenden Recht auf gesundheitlichen Schutz und Sicherheit am Arbeitsplatz? Fehlanzeige.

Tiefe Gräben zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften

Dieses durchwachsene Ergebnis ist einerseits auf eine unerbittlich kompromisslose Haltung der Arbeitgeberbank zurückzuführen, dem die Gewerkschaftsvertreter*innen zu wenig entgegenzusetzen vermochten. Deren Verhandlungsgewicht ist im vergangenen Jahrzehnt stetig gesunken. Die Arbeitgeberseite hingegen vermittelte glaubhaft, dass sie die Jahrhunderterklärung wenn nötig scheitern lassen würde. So gelang es den Arbeitgeber*innen letztlich, der Erklärung einen deutlichen kapitalistischen Stempel aufzudrücken. Das im Jahr 1944 formulierte Leitmotiv der ILO „Arbeit ist keine Ware“ fand zwar auch in die Deklaration Einzug. Aber letztlich wird es durch permanente Referenzen zu den Bedürfnissen der Märkte und eine ökonomisierte Sprache in nahezu allen Abschnitten des Dokuments konterkariert.

Die Jahrhunderterklärung ist ein Spiegel der gesamten Konferenz, die von einer zwiespältigen Stimmung geprägt war. Einerseits erinnerten dutzende hochrangige Redner*innen an den Gründungskontext und die historischen Meilensteine der ILO. Viele Laudator*innen mahnten die zentrale Rolle der Organisation bei der Gestaltung und Begleitung der technologischen Transformationen in der Arbeitswelt an. Echte Feierstimmung kam jedoch nicht auf. Schließlich ließen sich auch bei der IAK die veränderten politischen Rahmenbedingungen weltweit kaum leugnen, welche multilaterale Organisationen wie die ILO vor die Existenzprobe stellen.

Die internationale Arbeitsorganisation ist von den globalen Entwicklungen gleich doppelt betroffen: Einerseits leidet sie unter dem globalen Wiederaufleben von Nationalismus und Populismus und dem Trend zu bilateralem Agieren abseits international bindender Regelwerke. In Genf machte sich dieser Trend insbesondere auf der Regierungsbank bemerkbar. Dort bildeten sich bisweilen bizarre Allianzen, etwa zwischen Brasilien, Zimbabwe und Ägypten, die ihr Festhalten an autoritären Führerfiguren eint.

Auf der anderen Seite sieht sich die Organisation auch massiven Angriffen der Arbeitgeberbank ausgesetzt, die sich vom ILO-Sekretariat übergangen und ausgegrenzt sieht. In seiner Antrittsrede warf der Arbeitgebersprecher Mthunzi Mdwaba dem Sekretariat gar eine Parteinahme gegen die Unternehmer*innen vor, die das fragile Gleichgewicht innerhalb der Organisation ins Wanken bringe. Diese Haltung war tonangebend für den Widerstand der Arbeitgeber-Delegierten gegen jede Stärkung der Organisation in ihrem Einsatz für soziale Gerechtigkeit, Tarifverhandlungen oder Vereinigungsfreiheit.

Die ILO vor der Existenzprobe

Diese beiden sich gegenseitig verstärkenden Trends machen ein Vorankommen innerhalb der dreigliedrig organisierten ILO, in deren Gremien Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverteter*innen mit Nationalstaaten verhandeln, derzeit schwieriger denn je. Umso bezeichnender war es da, dass sich kaum einer der zahlreichen Staats- und Regierungschefs, die als Sprecher*innen geladen waren, durch Vorschläge für eine effektive Reform der Organisation hervortat. Macron verwies in seinem 50-minütigen Redemarathon zwar mit deutlichen Worten auf eine „Krise der Zivilisation“, blieb jedoch Antworten schuldig, wie die ILO dieser begegnen könnte. Letztlich waren Lösungen aber auch nicht gefragt.

Sicheren Applaus vom Plenum gab es vielmehr für passionierte Rückblicke auf die Sternstunden der ILO, etwa für Cyril Ramaphosas Rede, die daran erinnerte, wie die ILO den südafrikanischen Befreiungskampf unterstützte. Auch Kanzlerin Merkels klare Verurteilung von Kinderarbeit stieß auf Begeisterung. All dies sind wichtige Ergebnisse der Arbeit der ILO, hinter denen sich heute alle Mitglieder der Organisation kritiklos versammeln können – über diverse Regime-Typen hinweg. Wichtig und richtig, aber eben nichts Neues.

Im Fazit war die IAK eine große Nostalgie-Show. Der Großteil der Sprecher*innen bemühte sich so sehr um Konsens, dass es fast schon ironisch anmutete, als Merkels Bekenntnis zu Multilateralismus und Kompromissbereitschaft den ersten lang anhaltenden Applaus auf der Gewerkschaftsbank einfuhr. Das zeigte jedoch auch, wie sehr die ILO vor einer Zerreisprobe steht. Diese stellt das traditionelle Modell der Dreigliedrigkeit ebenso auf den Prüfstand wie die multilaterale Institution selbst, die Standards für die Arbeitswelt setzt.

Ein Lichtblick: Die ILO-Konvention Nr. 190

Vor diesem Hintergrund ist es umso bedeutsamer, dass die Organisation zu ihrem Jubiläum eine neue Konvention verabschieden konnte. Die hart umkämpfte Konvention Nr. 190 leistet nicht nur einen längst überfälligen Schritt zum Schutz von Arbeiter*innen vor sexualisierter Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz. Sie ist auch das Ergebnis langjähriger und unermüdlicher Lobbyarbeit von Gewerkschafter*innen innerhalb der ILO-Gremien – lange bevor #MeToo die Medienöffentlichkeit für das Thema sensibilisierte. Der Text der neuen Konvention knüpft indes auch an diese jüngeren Debatten an. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass er erstmals eine weltweit gültige Definition von Gewalt und sexueller Belästigung liefert und diese nicht nur auf Übergriffe am Arbeitsplatz selbst reduziert, sondern auch auf häusliche Gewalt sowie Belästigung auf dem Arbeitsweg hinweist. Zwar könnte der Schutz von besonders gefährdeten Gruppen, insbesondere von LGBTI-Personen, expliziter verankert sein, gleichwohl ist die Konvention ein historischer Erfolg für Gewerkschaften, Frauenrechtsorganisationen und die Konferenz gleichermaßen.

Letztlich ist sie aber auch für die Internationale Arbeitsorganisation als Institution in symbolischer Hinsicht bedeutsam. Sie belegt, dass die Sonderorganisation der Vereinten Nationen, die jährlich Regierungs-, Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter*innen aus 187 Ländern zusammenbringt, als Standard-setzende Instanz in der Welt der Arbeit nach 100 Jahren immer noch arbeitsfähig ist.


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